
Gegen ein „Reinheitsgebot“ für die Gesellschaft
Ein Schüler*innenprojekt zur Erinnerungskultur
Was haben wir noch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun? Wie kann Erinnerung in einer Gegenwart aussehen, in der Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus wieder erstarken? Wer entscheidet darüber, woran wir uns erinnern? Wie ist die Geschichte mit unserer Gegenwart verknüpft? Diese Fragen standen im Fokus eines Projekts zu der Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow. Schüler*innen des Wittelsbacher-Gymnasiums in München erarbeiteten sich selbst einen Rundgang durch einen Teil der Ausstellung, intensiv begleitet von der Kuratorin Juliane Bischoff und dem Historiker Dr. Dirk Riedel sowie den Studienreferendar*innen des Studienseminars Kunsterziehung. Die Jugendlichen setzten sich mit einem selbst gewählten Werk auseinander und stellten dieses in Zusammenhang mit der Vergangenheit und ihrer eigenen Gegenwart und Zukunft. Dabei wurden ihnen von den angehenden Kunstlehrer*innen zahlreiche Vermittlungsstrategien nahegebracht, die den Jugendlichen vielfältige Zugänge zu den Kunstwerken ermöglichten. Die Vorträge wurden intensiv diskutiert und erprobt. Der Rundgang konnte aufgrund der Corona-Krise nicht wie geplant am Internationalen Museumstag den Besucher*innen oder auch anderen schulischen Gruppen angeboten werden.

Wer erzählt welche Geschichte(n)?
Zu Beginn mussten die Schüler*innen eine Auswahl treffen: Womit will ich mich auseinandersetzen? Woran will ich mich und andere erinnern? Die Jugendlichen wurden dadurch selbst zum Teil eines Erinnerungsprozesses, in dem entscheidend ist, wer Geschichte(n) erzählt. Dadurch wird nicht nur der Blick auf die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart neu geprägt. Der Kurzfilm Inventur – Metzstraße 11 von Želimir Žilnik porträtiert eine internationale multinationale Hausgemeinschaft in einem Münchner Mietshaus des Jahres 1975 und lässt die dort lebenden Migrant*innen selbst etwas von ihrer Geschichte erzählen. Diese ist auch Teil der Lebenswelt vieler Schüler*innen, die einen Zusammenhang mit ihrer eigenen Familiengeschichte herstellen konnten und diese lange ungehörte(n) Geschichte(n) an die Mitschüler*innen weitergaben.
Wie wollen wir uns heute erinnern und unsere Verantwortung wahrnehmen?
Zwei Schüler*innen näherten sich dem Gemälde Himmel und Meer von Emil Nolde an. Dabei standen sie in stetigem Dialog – manchmal auch im Konflikt – darüber, wie man heute mit dem Werk dieses Künstlers, einem überzeugten Nationalsozialisten, umgehen kann. Die Frage nach der Trennung der/s Künstler*in von ihrem/seinem Werk ist hoch aktuell. So müssen sich Jugendliche heute beispielsweise fragen, ob man die Musik einer Person, die sich antisemitisch oder rassistisch äußert, noch anhören und auch noch gut finden kann/darf/will? Die Diskussionen und Gespräche der Schüler*innen untereinander haben gezeigt, dass Erinnern ein komplexer Prozess ist, in dem es selten einfache Antworten gibt.
Was hat das mit mir zu tun?
Viele Werke der Künstler*innen veranschaulichten den Jugendlichen, dass Antisemitismus und Rassismus sowie Ausgrenzung und Ausbeutung auch in ihrer Gegenwart präsent und mit dieser verwoben sind: Das Werk Untitled #21 aus der Serie Mémoire von Sammy Baloji thematisiert die bis heute andauernde Ausbeutung der Kongoles*innen, welche in den dortigen Minen unter unmenschlichen Bedingungen Metalle abbauen.
„Für mich äußert dieses Bild auch gesellschaftliche Kritik an der westlichen Welt und deren Konsumvorstellungen. Dieses Konsumdenken, was sich mittlerweile in unserer Gesellschaft bedauerlicherweise eingebrannt hat, dieser konsequente Druck, immer das neuste Smartphone zu haben und kaputte Sachen wegzuwerfen, anstatt sie zu reparieren, führt zu der extremen Ausbeutung von Ländern wie dem Kongo“,
stellt ein Schüler bei der Vorstellung des Kunstwerks fest. Auch die Installation Sufferhead-Original von Emeka Ogboh steht in direktem Zusammenhang mit der Lebenswelt der Jugendlichen. Der Künstler stellt hier den in München gedrehten Werbespot für ein Schwarzbier aus, das nach dem Geschmack von in Europa lebenden Afrikaner*innen gebraut werden soll. Er greift unter dem Slogan „Wer hat Angst vor Schwarz?“ Fragen nach dem Umgang mit unterschiedlichen Ethnien auf, der oftmals geprägt ist von Ablehnung und Ausgrenzung.
„Für mich ist das Kunstwerk ein Widerstand gegen ein ,Reinheitsgebot‘ für die Gesellschaft“,
sagt ein Schüler über das Kunstwerk und betont die Notwendigkeit, sich gegen eine Gesellschaft mit „Reinheitsgebot“ zu wehren.

Das Projekt hat den Schüler*innen eindrucksvoll gezeigt, dass der Umgang mit der Vergangenheit unsere Gegenwart und unsere Zukunft prägt, dass wir alle verantwortlich dafür sind, eine demokratische und pluralistische Gesellschaft mitzugestalten, in der Hass, Rassismus und Antisemitismus keinen Platz haben. Ein herzliches Dankeschön an Frau Bischoff und Herrn Dr. Riedel für die kompetente und wertvolle Begleitung!
Von Veronika Wiesmeier, Lehrerin für Geschichte am Wittelsbacher-Gymnasium München
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Gegen ein „Reinheitsgebot“ für die Gesellschaft
Ein Schüler*innenprojekt zur Erinnerungskultur
Was haben wir noch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun? Wie kann Erinnerung in einer Gegenwart aussehen, in der Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus wieder erstarken? Wer entscheidet darüber, woran wir uns erinnern? Wie ist die Geschichte mit unserer Gegenwart verknüpft? Diese Fragen standen im Fokus eines Projekts zu der Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow. Schüler*innen des Wittelsbacher-Gymnasiums in München erarbeiteten sich selbst einen Rundgang durch einen Teil der Ausstellung, intensiv begleitet von der Kuratorin Juliane Bischoff und dem Historiker Dr. Dirk Riedel sowie den Studienreferendar*innen des Studienseminars Kunsterziehung. Die Jugendlichen setzten sich mit einem selbst gewählten Werk auseinander und stellten dieses in Zusammenhang mit der Vergangenheit und ihrer eigenen Gegenwart und Zukunft. Dabei wurden ihnen von den angehenden Kunstlehrer*innen zahlreiche Vermittlungsstrategien nahegebracht, die den Jugendlichen vielfältige Zugänge zu den Kunstwerken ermöglichten. Die Vorträge wurden intensiv diskutiert und erprobt. Der Rundgang konnte aufgrund der Corona-Krise nicht wie geplant am Internationalen Museumstag den Besucher*innen oder auch anderen schulischen Gruppen angeboten werden.

Wer erzählt welche Geschichte(n)?
Zu Beginn mussten die Schüler*innen eine Auswahl treffen: Womit will ich mich auseinandersetzen? Woran will ich mich und andere erinnern? Die Jugendlichen wurden dadurch selbst zum Teil eines Erinnerungsprozesses, in dem entscheidend ist, wer Geschichte(n) erzählt. Dadurch wird nicht nur der Blick auf die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart neu geprägt. Der Kurzfilm Inventur – Metzstraße 11 von Želimir Žilnik porträtiert eine internationale multinationale Hausgemeinschaft in einem Münchner Mietshaus des Jahres 1975 und lässt die dort lebenden Migrant*innen selbst etwas von ihrer Geschichte erzählen. Diese ist auch Teil der Lebenswelt vieler Schüler*innen, die einen Zusammenhang mit ihrer eigenen Familiengeschichte herstellen konnten und diese lange ungehörte(n) Geschichte(n) an die Mitschüler*innen weitergaben.
Wie wollen wir uns heute erinnern und unsere Verantwortung wahrnehmen?
Zwei Schüler*innen näherten sich dem Gemälde Himmel und Meer von Emil Nolde an. Dabei standen sie in stetigem Dialog – manchmal auch im Konflikt – darüber, wie man heute mit dem Werk dieses Künstlers, einem überzeugten Nationalsozialisten, umgehen kann. Die Frage nach der Trennung der/s Künstler*in von ihrem/seinem Werk ist hoch aktuell. So müssen sich Jugendliche heute beispielsweise fragen, ob man die Musik einer Person, die sich antisemitisch oder rassistisch äußert, noch anhören und auch noch gut finden kann/darf/will? Die Diskussionen und Gespräche der Schüler*innen untereinander haben gezeigt, dass Erinnern ein komplexer Prozess ist, in dem es selten einfache Antworten gibt.
Was hat das mit mir zu tun?
Viele Werke der Künstler*innen veranschaulichten den Jugendlichen, dass Antisemitismus und Rassismus sowie Ausgrenzung und Ausbeutung auch in ihrer Gegenwart präsent und mit dieser verwoben sind: Das Werk Untitled #21 aus der Serie Mémoire von Sammy Baloji thematisiert die bis heute andauernde Ausbeutung der Kongoles*innen, welche in den dortigen Minen unter unmenschlichen Bedingungen Metalle abbauen.
„Für mich äußert dieses Bild auch gesellschaftliche Kritik an der westlichen Welt und deren Konsumvorstellungen. Dieses Konsumdenken, was sich mittlerweile in unserer Gesellschaft bedauerlicherweise eingebrannt hat, dieser konsequente Druck, immer das neuste Smartphone zu haben und kaputte Sachen wegzuwerfen, anstatt sie zu reparieren, führt zu der extremen Ausbeutung von Ländern wie dem Kongo“,
stellt ein Schüler bei der Vorstellung des Kunstwerks fest. Auch die Installation Sufferhead-Original von Emeka Ogboh steht in direktem Zusammenhang mit der Lebenswelt der Jugendlichen. Der Künstler stellt hier den in München gedrehten Werbespot für ein Schwarzbier aus, das nach dem Geschmack von in Europa lebenden Afrikaner*innen gebraut werden soll. Er greift unter dem Slogan „Wer hat Angst vor Schwarz?“ Fragen nach dem Umgang mit unterschiedlichen Ethnien auf, der oftmals geprägt ist von Ablehnung und Ausgrenzung.
„Für mich ist das Kunstwerk ein Widerstand gegen ein ,Reinheitsgebot‘ für die Gesellschaft“,
sagt ein Schüler über das Kunstwerk und betont die Notwendigkeit, sich gegen eine Gesellschaft mit „Reinheitsgebot“ zu wehren.

Das Projekt hat den Schüler*innen eindrucksvoll gezeigt, dass der Umgang mit der Vergangenheit unsere Gegenwart und unsere Zukunft prägt, dass wir alle verantwortlich dafür sind, eine demokratische und pluralistische Gesellschaft mitzugestalten, in der Hass, Rassismus und Antisemitismus keinen Platz haben. Ein herzliches Dankeschön an Frau Bischoff und Herrn Dr. Riedel für die kompetente und wertvolle Begleitung!
Von Veronika Wiesmeier, Lehrerin für Geschichte am Wittelsbacher-Gymnasium München