
Wo liegt „Pitchipoï“?
Über das Lager Drancy und die Arbeit „Pitchipoï“ von Leon Kahane
Die jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die nach der deutschen Besetzung Frankreichs im Lager Drancy inhaftiert wurden, wussten nicht, was sie erwartete. Zwar erlebten sie, wie immer mehr ihrer Mitgefangenen deportiert wurden, doch wohin die Bewacher sie brachten, das wussten sie nicht. Daher erfanden die Gefangenen von Drancy für diesen unbekannten Zielort die Bezeichnung Pitchipoï. Pitchipoï war zugleich ein Synonym für ihre ungewisse Zukunft.
Im Mittelpunkt der gleichnamigen Installation des Berliner Künstlers Leon Kahane, die er für die Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow schuf, steht das ehemalige Sammel- und Deportationslager in dem Pariser Vorort Drancy. Das Lager war auf Befehl der Gestapo eingerichtet worden, um von hier aus etwa 63.000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz und in andere Vernichtunglager wie Sobibór und Lublin-Majdanek zu verschleppen. Leon Kahane hat Drancy als Bezugspunkt für seine Arbeit gewählt, da seine Familiengeschichte mit dem ehemaligen Lager verbunden ist. In Fotografien und in einem Video erkundet er den heutigen Ort und hält seine Eindrücke und Begegnungen fest.
Doris Kahane: Überlebende des Lagers Drancy
Leon Kahanes Großmutter, die Künstlerin Doris Kahane (geb. Machol), musste nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 als 13-jähriges Mädchen zusammen mit ihrer Mutter ihre Geburtsstadt Berlin verlassen und nach Frankreich fliehen. Als die Deutschen das Land 1940 überfielen, schloss sich die mittlerweile erwachsene Doris der Résistance an. Doch 1944 wurde sie entdeckt und im Lager Drancy inhaftiert, bis alliierte Soldaten Paris erreichten und sie befreiten.

Unter den Gefangenen des Lagers waren zahlreiche Kinder. 6000 von ihnen wurden von Drancy aus deportiert und ermordet. Drei dieser Kinder porträtierte Doris Kahane 1944 in einer Zeichnung, die Teil von Leon Kahanes Installation ist.

Erinnerungsort Drancy: Mahnmal – Ausstellung – Dokumentationszentrum
Das Deportationslager entstand in einem noch nicht ganz fertiggestellten hufeisenförmigen Gebäudekomplex, der einen Teil der großen modernistischen Siedlungsanlage Cité de la Muette bildete. Das Gesamtareal aus den 1930er Jahren war ursprünglich ein soziales Wohnungsprojekt, doch schon 1939 hatte die französische Polizei in dem hufeisenförmigen Teil der Siedlung Kommunisten inhaftiert. 1940 beschlagnahmte die Wehrmacht diesen Bereich. Der Komplex wurde mit Stacheldrahtzaun abgesperrt und durch Wachtürme gesichert; in dem Gebäude selbst brachten die deutschen Militärs Kriegsgefangene und Zivilinternierte unter. Im Sommer 1941 übernahm schließlich die Gestapo das Lager und ließ dort Jüdinnen und Juden inhaftieren. Die Gefangenen wurden zunächst von Gendarmen des Vichy-Regimes und ab 1943 von SS-Angehörigen bewacht, die dem Kommando des SS-Hauptsturmführers Alois Brunner unterstanden. Die Haftbedingungen waren katastrophal, wegen der mangelnden Versorgung breiteten sich rasch Krankheiten aus und Gefangene verhungerten. Ab Sommer 1942 deportierte die Gestapo die ersten Häftlinge nach Auschwitz, wo ein Großteil von ihnen unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde.
Nach Kriegsende diente der Gebäudekomplex in Drancy als Internierungslager für mutmaßliche Kollaborateure. Doch 1946 wurde das Lager aufgelöst und der in den 1930er Jahren begonnene Sozialbau fertiggestellt. Bis heute als Wohnanlage genutzt, steht der Hufeisenbau inzwischen unter Denkmalschutz. Die übrigen Häuser der Cité de la Muette wurden 1976 abgerissen. Französische Holocaust-Überlebende hielten am Ort des ehemaligen Lagers erstmals 1946 eine Gedenkveranstaltung ab, jedoch fanden ihre Forderungen nach der Einrichtung einer offiziellen, dauerhaften Gedenkstätte jahrzehntelang kein Gehör. Erst 30 Jahre später wurde an der offenen Seite des Hufeisenbaus ein großes nationales Mahnmal eingeweiht. Der Entwurf stammt von dem in Polen geborenen israelisch-französischen Bildhauer Shlomo Selinger. Es erinnert an die gewaltsame Deportation der Jüdinnen und Juden aus Frankreich. Seit 1988 ergänzt ein historischer Güterwaggon die Denkmalsanlage.
Den ehemaligen Gefangenen von Drancy und ihren Angehörigen ist es ein Anliegen, dass dort auch die Geschichten des Ortes, der Deportationen und der jüdischen Häftlinge selbst erzählt werden. 1987 gründeten die Überlebenden Henri Moraud und Georges Wellers die Association Fonds Mémoire d'Auschwitz (AFMA). Die Initiative organisiert jährliche Gedenkzeremonien, sie veranstaltet Bildungsfahrten nach Auschwitz und zu anderen Erinnerungsorten. Außerdem ist sie Trägerin der Ausstellung Les yeux de la mémoire (Die Augen der Erinnerung), die sich inmitten des Hufeisenbaus in Drancy befindet. Die Schau erläutert die Geschichte der sukzessiven Ausgrenzung und Verfolgung der französischen Jüdinnen und Juden. Darüber hinaus enthält sie zahlreiche persönliche Zeugnisse von Opfern des Holocaust.
Erst 2012 wurde mit dem Mémorial de la Shoah de Drancy endlich auch ein offizielles Dokumentationszentrum errichtet. Es befindet sich ganz in der Nähe, mit Blick auf die Cité de la Muette, und wird von staatlichen und kommunalen Stellen getragen. Dennoch besuchen viele Schulklassen auch weiterhin die Erinnerungsstätte der AFMA. Dies mag zum einen daran liegen, dass die Ausstellung in dem historischen Gebäudekomplex eine besondere Verbindung zum Ort herstellen kann. Zum anderen ist das Interesse an der Ausstellung aber sicherlich auch auf das Engagement und die bewegenden Schilderungen der Überlebenden und ihrer Nachfahren zurückzuführen.
Lucien Tinader: Sohn einer Gefangenen von Drancy
Auch Leon Kahane ließ sich für seine Installation den Ort von einem der Mitglieder der Gedenkinitiative, dem Vizepräsidenten der AFMA, Lucien Tinader, zeigen. Bewusst filmte der Künstler dabei den Zugwaggon und die Ausstellung im Hufeisenbau, nicht aber das staatliche Dokumentationszentrum. Tinader gehört der Gedenkinitiative AFMA seit 1994 an und führt seit über 15 Jahren Gruppen durch die Ausstellung und das ehemalige Deportationslager. Seine eigene Familiengeschichte ist in besonderer Weise mit dem Lager und der Cité de la Muette verbunden. 15 seiner Verwandten, darunter auch seine Mutter, wurden von Drancy aus in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt, nur einer von ihnen überlebte und kehrte nach 1945 nach Frankreich zurück. Tinaders Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Vor ihrer Verhaftung war es ihr gelungen, den siebenjährigen Lucien bei einer katholischen Familie in der Gemeinde Le Buisson in der Normandie zu verstecken, wo er den Holocaust überlebte.

Später, nach der Befreiung Frankreichs, lebte Tinader selbst in Drancy und betrieb in der Cité de la Muette eine Schneiderei. Im Gespräch mit Leon Kahane offenbart er, dass die Räume seiner Werkstatt bis 1944 als Schreibbüro der Gestapo dienten; unter anderem wurden dort die Deportationslisten erstellt. Nach seiner Pensionierung überließ Tinader die alte Schneiderwerkstatt der Initiative AFMA, damit in den Räumen die Ausstellung samt Büro und Informationsstelle eingerichtet werden konnte.
Detailreich erzählt Tinader vor Kahanes Kamera die Geschichten, die ihm Überlebende des Lagers Drancy geschildert haben. So gelingt es ihm, den heutigen Ort mit den Erfahrungen der Zeitzeugen zu verbinden: Ein Gedenkstein markiert heute die Stelle, an der Gefangene versucht hatten, einen Fluchttunnel zu graben, bis sie entdeckt und deportiert wurden. In den Räumen neben den Treppenhäusern der heutigen Wohnanlage wurden Gefangene untergebracht, sobald sie in den Deportationslisten erfasst waren. Meist am folgenden Tag wurden sie von den Bahnhöfen in Bobigny oder Bourget-Drancy aus nach Auschwitz transportiert. Tinader berichtet über die quälenden Zugfahrten, bei denen 60 bis 80 Personen in einem Waggon zusammengepfercht waren. Er zitiert den Überlebenden Léon Lehrer, der die Fahrt nach Auschwitz als „Hölle“ für sich und seine Schwester Louise schilderte. 1945, nach seiner Befreiung, kehrte Lehrer zu seiner Familie nach Frankreich zurück. Seine Nichte öffnete ihm die Tür. Als sie nach ihrer Mutter fragte, musste er ihr mitteilen, dass Louise das Lager nicht überlebt hatte.
Erinnerung als aktiver Prozess
In seiner Kunstinstallation präsentiert Kahane ein Video mit Ausschnitten aus dem Rundgang mit Lucien Tinader. Daneben platziert er einen zweiten Bildschirm, der Szenen des heutigen Lebens in der Cité de la Muette zeigt. Passanten tragen ihre Einkäufe nach Hause, telefonieren, Autos parken vor dem Gelände, Kinder spielen, Jugendliche tippen auf ihren Smartphones. In diesem Kosmos aus Alltag und Normalität scheint die Geschichte des Nationalsozialismus, scheinen Erzählungen von Gefangenenschaft und Massenmord Lichtjahre entfernt. Ein Reinigungstrupp sorgt in oranger Arbeitskleidung mit Rasenmäher und Laubsaugern für Ordnung, als sollten die letzten Erinnerungsfetzen weggefegt werden.
Doch so widersprüchlich es anmutet: Die Wohnanlage bleibt zugleich auch der historische Ort des Deportationslagers; die Spuren und Relikte des Lagers sind sichtbar. Aber die Erinnerung funktioniert nur als aktiver Prozess. Sie setzt voraus, dass Betrachterinnen und Betrachter bereit sind, sich auf die Geschichte einzulassen. Außerdem bedarf es ausreichender Informationen, um die historischen Spuren deuten zu können. Informationen, wie sie Lucien Tinander und seine engagierten Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Association Fonds Mémoire d'Auschwitz seit fast 33 Jahren zusammentragen und vermitteln.
Von Dirk Riedel, wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums München
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Wo liegt „Pitchipoï“?
Über das Lager Drancy und die Arbeit „Pitchipoï“ von Leon Kahane
Die jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die nach der deutschen Besetzung Frankreichs im Lager Drancy inhaftiert wurden, wussten nicht, was sie erwartete. Zwar erlebten sie, wie immer mehr ihrer Mitgefangenen deportiert wurden, doch wohin die Bewacher sie brachten, das wussten sie nicht. Daher erfanden die Gefangenen von Drancy für diesen unbekannten Zielort die Bezeichnung Pitchipoï. Pitchipoï war zugleich ein Synonym für ihre ungewisse Zukunft.
Im Mittelpunkt der gleichnamigen Installation des Berliner Künstlers Leon Kahane, die er für die Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow schuf, steht das ehemalige Sammel- und Deportationslager in dem Pariser Vorort Drancy. Das Lager war auf Befehl der Gestapo eingerichtet worden, um von hier aus etwa 63.000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz und in andere Vernichtunglager wie Sobibór und Lublin-Majdanek zu verschleppen. Leon Kahane hat Drancy als Bezugspunkt für seine Arbeit gewählt, da seine Familiengeschichte mit dem ehemaligen Lager verbunden ist. In Fotografien und in einem Video erkundet er den heutigen Ort und hält seine Eindrücke und Begegnungen fest.
Doris Kahane: Überlebende des Lagers Drancy
Leon Kahanes Großmutter, die Künstlerin Doris Kahane (geb. Machol), musste nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 als 13-jähriges Mädchen zusammen mit ihrer Mutter ihre Geburtsstadt Berlin verlassen und nach Frankreich fliehen. Als die Deutschen das Land 1940 überfielen, schloss sich die mittlerweile erwachsene Doris der Résistance an. Doch 1944 wurde sie entdeckt und im Lager Drancy inhaftiert, bis alliierte Soldaten Paris erreichten und sie befreiten.

Unter den Gefangenen des Lagers waren zahlreiche Kinder. 6000 von ihnen wurden von Drancy aus deportiert und ermordet. Drei dieser Kinder porträtierte Doris Kahane 1944 in einer Zeichnung, die Teil von Leon Kahanes Installation ist.

Erinnerungsort Drancy: Mahnmal – Ausstellung – Dokumentationszentrum
Das Deportationslager entstand in einem noch nicht ganz fertiggestellten hufeisenförmigen Gebäudekomplex, der einen Teil der großen modernistischen Siedlungsanlage Cité de la Muette bildete. Das Gesamtareal aus den 1930er Jahren war ursprünglich ein soziales Wohnungsprojekt, doch schon 1939 hatte die französische Polizei in dem hufeisenförmigen Teil der Siedlung Kommunisten inhaftiert. 1940 beschlagnahmte die Wehrmacht diesen Bereich. Der Komplex wurde mit Stacheldrahtzaun abgesperrt und durch Wachtürme gesichert; in dem Gebäude selbst brachten die deutschen Militärs Kriegsgefangene und Zivilinternierte unter. Im Sommer 1941 übernahm schließlich die Gestapo das Lager und ließ dort Jüdinnen und Juden inhaftieren. Die Gefangenen wurden zunächst von Gendarmen des Vichy-Regimes und ab 1943 von SS-Angehörigen bewacht, die dem Kommando des SS-Hauptsturmführers Alois Brunner unterstanden. Die Haftbedingungen waren katastrophal, wegen der mangelnden Versorgung breiteten sich rasch Krankheiten aus und Gefangene verhungerten. Ab Sommer 1942 deportierte die Gestapo die ersten Häftlinge nach Auschwitz, wo ein Großteil von ihnen unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde.
Nach Kriegsende diente der Gebäudekomplex in Drancy als Internierungslager für mutmaßliche Kollaborateure. Doch 1946 wurde das Lager aufgelöst und der in den 1930er Jahren begonnene Sozialbau fertiggestellt. Bis heute als Wohnanlage genutzt, steht der Hufeisenbau inzwischen unter Denkmalschutz. Die übrigen Häuser der Cité de la Muette wurden 1976 abgerissen. Französische Holocaust-Überlebende hielten am Ort des ehemaligen Lagers erstmals 1946 eine Gedenkveranstaltung ab, jedoch fanden ihre Forderungen nach der Einrichtung einer offiziellen, dauerhaften Gedenkstätte jahrzehntelang kein Gehör. Erst 30 Jahre später wurde an der offenen Seite des Hufeisenbaus ein großes nationales Mahnmal eingeweiht. Der Entwurf stammt von dem in Polen geborenen israelisch-französischen Bildhauer Shlomo Selinger. Es erinnert an die gewaltsame Deportation der Jüdinnen und Juden aus Frankreich. Seit 1988 ergänzt ein historischer Güterwaggon die Denkmalsanlage.
Den ehemaligen Gefangenen von Drancy und ihren Angehörigen ist es ein Anliegen, dass dort auch die Geschichten des Ortes, der Deportationen und der jüdischen Häftlinge selbst erzählt werden. 1987 gründeten die Überlebenden Henri Moraud und Georges Wellers die Association Fonds Mémoire d'Auschwitz (AFMA). Die Initiative organisiert jährliche Gedenkzeremonien, sie veranstaltet Bildungsfahrten nach Auschwitz und zu anderen Erinnerungsorten. Außerdem ist sie Trägerin der Ausstellung Les yeux de la mémoire (Die Augen der Erinnerung), die sich inmitten des Hufeisenbaus in Drancy befindet. Die Schau erläutert die Geschichte der sukzessiven Ausgrenzung und Verfolgung der französischen Jüdinnen und Juden. Darüber hinaus enthält sie zahlreiche persönliche Zeugnisse von Opfern des Holocaust.
Erst 2012 wurde mit dem Mémorial de la Shoah de Drancy endlich auch ein offizielles Dokumentationszentrum errichtet. Es befindet sich ganz in der Nähe, mit Blick auf die Cité de la Muette, und wird von staatlichen und kommunalen Stellen getragen. Dennoch besuchen viele Schulklassen auch weiterhin die Erinnerungsstätte der AFMA. Dies mag zum einen daran liegen, dass die Ausstellung in dem historischen Gebäudekomplex eine besondere Verbindung zum Ort herstellen kann. Zum anderen ist das Interesse an der Ausstellung aber sicherlich auch auf das Engagement und die bewegenden Schilderungen der Überlebenden und ihrer Nachfahren zurückzuführen.
Lucien Tinader: Sohn einer Gefangenen von Drancy
Auch Leon Kahane ließ sich für seine Installation den Ort von einem der Mitglieder der Gedenkinitiative, dem Vizepräsidenten der AFMA, Lucien Tinader, zeigen. Bewusst filmte der Künstler dabei den Zugwaggon und die Ausstellung im Hufeisenbau, nicht aber das staatliche Dokumentationszentrum. Tinader gehört der Gedenkinitiative AFMA seit 1994 an und führt seit über 15 Jahren Gruppen durch die Ausstellung und das ehemalige Deportationslager. Seine eigene Familiengeschichte ist in besonderer Weise mit dem Lager und der Cité de la Muette verbunden. 15 seiner Verwandten, darunter auch seine Mutter, wurden von Drancy aus in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt, nur einer von ihnen überlebte und kehrte nach 1945 nach Frankreich zurück. Tinaders Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Vor ihrer Verhaftung war es ihr gelungen, den siebenjährigen Lucien bei einer katholischen Familie in der Gemeinde Le Buisson in der Normandie zu verstecken, wo er den Holocaust überlebte.

Später, nach der Befreiung Frankreichs, lebte Tinader selbst in Drancy und betrieb in der Cité de la Muette eine Schneiderei. Im Gespräch mit Leon Kahane offenbart er, dass die Räume seiner Werkstatt bis 1944 als Schreibbüro der Gestapo dienten; unter anderem wurden dort die Deportationslisten erstellt. Nach seiner Pensionierung überließ Tinader die alte Schneiderwerkstatt der Initiative AFMA, damit in den Räumen die Ausstellung samt Büro und Informationsstelle eingerichtet werden konnte.
Detailreich erzählt Tinader vor Kahanes Kamera die Geschichten, die ihm Überlebende des Lagers Drancy geschildert haben. So gelingt es ihm, den heutigen Ort mit den Erfahrungen der Zeitzeugen zu verbinden: Ein Gedenkstein markiert heute die Stelle, an der Gefangene versucht hatten, einen Fluchttunnel zu graben, bis sie entdeckt und deportiert wurden. In den Räumen neben den Treppenhäusern der heutigen Wohnanlage wurden Gefangene untergebracht, sobald sie in den Deportationslisten erfasst waren. Meist am folgenden Tag wurden sie von den Bahnhöfen in Bobigny oder Bourget-Drancy aus nach Auschwitz transportiert. Tinader berichtet über die quälenden Zugfahrten, bei denen 60 bis 80 Personen in einem Waggon zusammengepfercht waren. Er zitiert den Überlebenden Léon Lehrer, der die Fahrt nach Auschwitz als „Hölle“ für sich und seine Schwester Louise schilderte. 1945, nach seiner Befreiung, kehrte Lehrer zu seiner Familie nach Frankreich zurück. Seine Nichte öffnete ihm die Tür. Als sie nach ihrer Mutter fragte, musste er ihr mitteilen, dass Louise das Lager nicht überlebt hatte.
Erinnerung als aktiver Prozess
In seiner Kunstinstallation präsentiert Kahane ein Video mit Ausschnitten aus dem Rundgang mit Lucien Tinader. Daneben platziert er einen zweiten Bildschirm, der Szenen des heutigen Lebens in der Cité de la Muette zeigt. Passanten tragen ihre Einkäufe nach Hause, telefonieren, Autos parken vor dem Gelände, Kinder spielen, Jugendliche tippen auf ihren Smartphones. In diesem Kosmos aus Alltag und Normalität scheint die Geschichte des Nationalsozialismus, scheinen Erzählungen von Gefangenenschaft und Massenmord Lichtjahre entfernt. Ein Reinigungstrupp sorgt in oranger Arbeitskleidung mit Rasenmäher und Laubsaugern für Ordnung, als sollten die letzten Erinnerungsfetzen weggefegt werden.
Doch so widersprüchlich es anmutet: Die Wohnanlage bleibt zugleich auch der historische Ort des Deportationslagers; die Spuren und Relikte des Lagers sind sichtbar. Aber die Erinnerung funktioniert nur als aktiver Prozess. Sie setzt voraus, dass Betrachterinnen und Betrachter bereit sind, sich auf die Geschichte einzulassen. Außerdem bedarf es ausreichender Informationen, um die historischen Spuren deuten zu können. Informationen, wie sie Lucien Tinander und seine engagierten Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Association Fonds Mémoire d'Auschwitz seit fast 33 Jahren zusammentragen und vermitteln.
Von Dirk Riedel, wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums München