
Vom Bundeskanzleramt ins NS-Dokumentationszentrum
Emil Nolde, der National- sozialismus und die Kunst der Verdrängung
Die Meldung geht im Frühjahr 2019 durch die Presse: Kanzlerin Merkel trennt sich von „ihrem“ Nolde. Seit 2006 schmückt das Ölgemälde Brecher von 1936 ihr Amtszimmer. Doch ihr Lieblingsmaler gerät zunehmend unter Beschuss. Spätestens mit der 2019 im Hamburger Bahnhof in Berlin gezeigten Ausstellung „Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus“ wird die Rolle Noldes als Parteigänger des NS-Regimes, insbesondere sein Antisemitismus, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Aus dem gefeierten Expressionisten, dessen Werk im „Dritten Reich“ als „entartet“ verfemt wurde und der deshalb jahrzehntelang als NS-Verfolgter galt, wird Emil Nolde, der glühende Nazi und Antisemit. Die Kanzlerin zieht die Konsequenz aus der öffentlichen Debatte: Noldes Brecher wird aus dem Kanzleramt entfernt.

Nicht das Bild aus Merkels Dienstzimmer ist es, das derzeit im Rahmen der Wechselausstellung Tell me about yesterday tomorrow im NS-Dokumentationszentrum München zu sehen ist, aber ein Bild von ähnlicher Intensität, dem Spiel der Elemente gewidmet: Meer und Himmel aus dem Jahr 1937. Irritierend wirkt das in vielschichtigem Blau gehaltene Ölgemälde zwischen den sachlichen Informationstafeln der Dauerausstellung zur nationalsozialistischen Kunstpolitik. Es verführt dazu, sich in der Tiefe des Horizonts zwischen Meer und Himmel zu verlieren – und regt zugleich dazu an, über Nolde als Künstler und als politischer, seiner Zeit verhafteter Mensch, sprich: über Kunst, Politik und Moral zu reflektieren.

Emil Nolde, geboren 1867 als Sohn eines Bauern im deutsch-dänischen Grenzgebiet, zählt Anfang der 1930er Jahre zu den Hauptvertretern des deutschen Expressionismus. Er ist einer der angesehensten, in zahlreichen Galerien und Museen vertretenen Künstler der Moderne in Deutschland. Avantgardist in seinem Fach zu sein, bewahrt ihn freilich nicht vor weltanschaulichem Antimodernismus. Die nationalsozialistische Machtübernahme begrüßen Nolde und seine dänische Frau begeistert. Der überzeugte Antisemit hängt einem völkischen Nationalismus an und sieht in Hitler den starken Führer, der Deutschland wieder aufzurichten vermag. Nolde dient sich dem NS-Regime an und ist bereit, eine exponierte Stellung darin zu übernehmen. Er beklagt die „Überfremdung der deutschen Kunst“ (Nolde an Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, 2. Juli 1938) und entwirft einen Plan zur „Entjudung“ der deutschen Gesellschaft, mit dem er sich den neuen Machthabern empfehlen will. Im April 1933 bemüht sich Nolde um Aufnahme in den reaktionären nationalsozialistischen Kampfbund für deutsche Kultur, sein Ansinnen wird jedoch wegen seiner künstlerischen Position abgelehnt. Vermittelt über Erna Hanfstaengl, Schwester des Hitler-Vertrauten Ernst „Putzi“ Hanfstaengl, nimmt Nolde am 9. November 1933 als Ehrengast des Reichsführers SS Heinrich Himmler in München an den Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag des Hitler-Putschs teil. 1934 wird Nolde, der seit der Angliederung Nordschleswigs an Dänemark im Jahr 1920 dänischer Staatsbürger ist, Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig, einer NS-Organisation der dortigen deutschen Minderheit. Er pflegt Kontakte in hohe Parteikreise und wirbt um Anerkennung seines Werks.

Doch während Nolde sich ganz dem neuen Regime verschreibt, wird seine Kunst zum Austragungsfeld ideologischer Debatten. Der Expressionismus, den er verkörpert, wird von führenden Parteiideologen als die Kunstrichtung der „Systemzeit“, als „Verfallskunst“ und „kulturbolschewistisch“ abgelehnt. Noch hat der überzeugte Parteigenosse Förderer in Staat und Partei, die einem mit der NS-Ideologie kompatiblen „Nordischen Expressionismus“ das Wort reden. Er stellt erfolgreich in Galerien und Museen aus, das Folkwang-Museum in Essen erwirbt seine Werke. Spätestens 1937 jedoch, im Entstehungsjahr von „Meer und Himmel“, dreht sich der Wind. Noldes Werke werden nun offiziell und von höchster Stelle aus als „undeutsch“ und „entartet“ diffamiert und in den Museen beschlagnahmt. Am 19. Juli 1937 eröffnet die nationalsozialistische Propagandaschau Entartete Kunst in München. In der Hetzausstellung im Galeriegebäude am Hofgarten werden 33 seiner Werke präsentiert – kein anderer Künstler ist so darin stark vertreten.

Nolde wird aufgefordert, aus der Preußischen Akademie der Künste auszutreten, der er seit 1931 angehört. Der Künstler weigert sich und beruft sich auf seine NSDAP-Mitgliedschaft – mit Erfolg. Auch an seiner antisemitischen Einstellung lässt er nicht zweifeln. Bereits unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme denunziert er den Künstler Max Pechstein beim Reichspropagandaministerium, indem er auf dessen angebliche jüdische Abstammung hinweist. Die sich verschärfende antisemitische Politik des Regimes kommentiert er beifällig.
„Daß die Opperation zur Entfernung der Juden, die sich so tief in alle Völker hineingebohrt haben, nicht ohne viel Weh geschehen kann, muß man verstehen können.“
Emil Nolde an seinen Schweizer Freund Hans Fehr, 29.10.1938 | Archiv der Nolde Stiftung Seebüll
Auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs reagieren Nolde und seine Frau mit nationaler Begeisterung und bekräftigen erneut ihre Loyalität gegenüber Adolf Hitler und dem NS-Regime.
Noldes Kunst dagegen bleibt offiziell verfemt. 1941 wird er wegen „mangelnder Zuverlässigkeit“ aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen; seine Werke dürfen fortan weder ausgestellt noch verkauft werden. Trotz dieses Berufsverbots identifiziert sich Nolde weiterhin mit dem Nationalsozialismus und seinen Zielen. An seinem Antisemitismus hält er auch angesichts der sich stetig radikalisierenden antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes fest. Bis fast zuletzt hofft er auf den vielbeschworenen „Endsieg“.
Nach Kriegsende muss Nolde sich einem Entnazifizierungsverfahren stellen, aus dem er 1946 trotz seiner Parteimitgliedschaft als Entlasteter hervorgeht. Die Diffamierung seiner Kunst gilt als Beweis seiner Ablehnung des NS-Regimes. Er stilisiert sich erfolgreich als Opfer des NS-Regimes und seiner Kunstpolitik. Das Berufsverbot stellt er als Malverbot dar. Belastende Zeugnisse vernichtet er, säubert seine autobiografischen Schriften und verkehrt in seinen Selbstäußerungen seine Haltung zum Nationalsozialismus ins Gegenteil.
„Hinsichtlich meiner Person bemerke ich, dass ich seit dem Regierungswechsel 1933 in steigendem Masse verfolgt wurde, dann zum Schutz meines Werkes in die Partei eintrat und (...) später aus der Reichskammer der Bildenden Küste ausgeschlossen wurde, womit ein Mal- und Verkaufsverbot verbunden war.“
Emil Nolde am 18.6.1946 in einer eidesstattlichen Erklärung | Archiv der Nolde Stiftung Seebüll
Seit 1946 werden Noldes Werke wieder öffentlich ausgestellt, erstmals im Rahmen der Ausstellung Befreite Kunst in Niedersachsen. Anlässlich seines 79. Geburtstags wird der Künstler am 7. August 1946 durch den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten zum Ehrenprofessor ernannt, ein Jahr später feiern Galerien und Museen in ganz Westdeutschland den Achtzigjährigen. Die Kunstwelt und die Öffentlichkeit übernehmen Noldes Selbstinszenierung als Opfer des Nationalsozialismus bereitwillig. Die junge Bundesrepublik, bemüht um Abgrenzung von der nationalsozialistischen Diktatur, schreibt sich die Ehrenrettung der künstlerischen Moderne und insbesondere des Expressionismus auf die Fahnen: gewissermaßen als Akt der „Wiedergutmachung“. Der vormals verfemte Nolde erfährt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen und steht damit stellvertretend für die Deutschen, die unter der NS-Diktatur litten – so will es das westdeutsche Entlastungsnarrativ. Dass er Parteigänger des Nationalsozialismus war, wird verdrängt.
1956 stirbt Nolde in seinem Haus in Seebüll. Eine von ihm verfügte Stiftung soll sein Andenken aufrecht erhalten und sein Werk verwalten. Jahrzehntelang pflegt und verbreitet sie den Mythos des verfolgten Künstlers. Neuauflagen von Noldes autobiografischen Schriften und Briefeditionen werden von antisemitischen Passagen gereinigt, Biografen schreiben die Opfererzählung fest. Mit der Veröffentlichung von Siegfried Lenz’ Roman Deutschstunde im Jahr 1968, in dessen Mittelpunkt ein von der Gestapo überwachter Maler steht und der an Noldes – geschönter – Lebensgeschichte angelehnt ist, wird die Legende vom widerständigen Künstler weiter popularisiert. Von Lenz unbeabsichtigt, leistet das Buch der Selbstentschuldung Noldes weiter Vorschub. Der Expressionist wird zum Aushängeschild eines anderen, geläuterten Deutschlands. Seine Werke finden Eingang in die Amtsräume der Regierenden, von Bundespräsident Gustav Heinemann über Bundeskanzler Helmut Schmidt bis hin zu Angela Merkel.

Über ein halbes Jahrhundert dauert es, bis Noldes NS-Affinität in der Wissenschaft zum Thema wird, zwei weitere Jahrzehnte, bis sie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und bewusst wird. Dies ist vor allem das Verdienst der großen Nolde-Ausstellung von 2019 im Hamburger Bahnhof in Berlin.
Dass Noldes Gemälde Meer und Himmel nun Teil der Wechselausstellung Tell me about yesterday tomorrow im NS-Dokumentationszentrum München ist, hat nichts mit einem erneuten „Vorführen“ des Künstlers zu tun. Es geht nicht darum, sich zur moralischen Instanz zu erheben und über Nolde und sein Werk zu richten. Es geht vielmehr um das Sichtbarmachen der Grau- und Zwischentöne, der Ungereimtheiten in Leben und Œuvre des Künstlers. Nolde nun vom Opfer zum Täter zu machen und seine Kunst zu verdammen, wäre eine falsche Konsequenz. Der historischen Wirklichkeit näher kommt eine Sichtweise, die Nolde als das sieht, was er war: ein Künstler, dessen Werk seitens des NS-Regimes verfemt wurde, zugleich aber ein überzeugter Nationalsozialist und Hitler-Verehrer, Antisemit und völkischer Nationalist. Und nicht zuletzt ein Meister der Selbstentlastung, der auf eine Gesellschaft stieß, die seiner Opfererzählung nur allzu gerne Glauben schenkte und sie zu der ihren machte.
Von Ulla-Britta Vollhardt, wissenschaftliche Mitarbeiterin des NS-Dokumentationszentrums München
literaturempfehlung
Emil Nolde. Eine deutsche Legende – Der Künstler im Nationalsozialismus, 2 Bde., hg. von Bernhard Fulda, Christian Ring und Aya Soika, München 2019
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Vom Bundeskanzleramt ins NS-Dokumentationszentrum
Emil Nolde, der National- sozialismus und die Kunst der Verdrängung
Die Meldung geht im Frühjahr 2019 durch die Presse: Kanzlerin Merkel trennt sich von „ihrem“ Nolde. Seit 2006 schmückt das Ölgemälde Brecher von 1936 ihr Amtszimmer. Doch ihr Lieblingsmaler gerät zunehmend unter Beschuss. Spätestens mit der 2019 im Hamburger Bahnhof in Berlin gezeigten Ausstellung „Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus“ wird die Rolle Noldes als Parteigänger des NS-Regimes, insbesondere sein Antisemitismus, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Aus dem gefeierten Expressionisten, dessen Werk im „Dritten Reich“ als „entartet“ verfemt wurde und der deshalb jahrzehntelang als NS-Verfolgter galt, wird Emil Nolde, der glühende Nazi und Antisemit. Die Kanzlerin zieht die Konsequenz aus der öffentlichen Debatte: Noldes Brecher wird aus dem Kanzleramt entfernt.

Nicht das Bild aus Merkels Dienstzimmer ist es, das derzeit im Rahmen der Wechselausstellung Tell me about yesterday tomorrow im NS-Dokumentationszentrum München zu sehen ist, aber ein Bild von ähnlicher Intensität, dem Spiel der Elemente gewidmet: Meer und Himmel aus dem Jahr 1937. Irritierend wirkt das in vielschichtigem Blau gehaltene Ölgemälde zwischen den sachlichen Informationstafeln der Dauerausstellung zur nationalsozialistischen Kunstpolitik. Es verführt dazu, sich in der Tiefe des Horizonts zwischen Meer und Himmel zu verlieren – und regt zugleich dazu an, über Nolde als Künstler und als politischer, seiner Zeit verhafteter Mensch, sprich: über Kunst, Politik und Moral zu reflektieren.

Emil Nolde, geboren 1867 als Sohn eines Bauern im deutsch-dänischen Grenzgebiet, zählt Anfang der 1930er Jahre zu den Hauptvertretern des deutschen Expressionismus. Er ist einer der angesehensten, in zahlreichen Galerien und Museen vertretenen Künstler der Moderne in Deutschland. Avantgardist in seinem Fach zu sein, bewahrt ihn freilich nicht vor weltanschaulichem Antimodernismus. Die nationalsozialistische Machtübernahme begrüßen Nolde und seine dänische Frau begeistert. Der überzeugte Antisemit hängt einem völkischen Nationalismus an und sieht in Hitler den starken Führer, der Deutschland wieder aufzurichten vermag. Nolde dient sich dem NS-Regime an und ist bereit, eine exponierte Stellung darin zu übernehmen. Er beklagt die „Überfremdung der deutschen Kunst“ (Nolde an Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, 2. Juli 1938) und entwirft einen Plan zur „Entjudung“ der deutschen Gesellschaft, mit dem er sich den neuen Machthabern empfehlen will. Im April 1933 bemüht sich Nolde um Aufnahme in den reaktionären nationalsozialistischen Kampfbund für deutsche Kultur, sein Ansinnen wird jedoch wegen seiner künstlerischen Position abgelehnt. Vermittelt über Erna Hanfstaengl, Schwester des Hitler-Vertrauten Ernst „Putzi“ Hanfstaengl, nimmt Nolde am 9. November 1933 als Ehrengast des Reichsführers SS Heinrich Himmler in München an den Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag des Hitler-Putschs teil. 1934 wird Nolde, der seit der Angliederung Nordschleswigs an Dänemark im Jahr 1920 dänischer Staatsbürger ist, Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig, einer NS-Organisation der dortigen deutschen Minderheit. Er pflegt Kontakte in hohe Parteikreise und wirbt um Anerkennung seines Werks.

Doch während Nolde sich ganz dem neuen Regime verschreibt, wird seine Kunst zum Austragungsfeld ideologischer Debatten. Der Expressionismus, den er verkörpert, wird von führenden Parteiideologen als die Kunstrichtung der „Systemzeit“, als „Verfallskunst“ und „kulturbolschewistisch“ abgelehnt. Noch hat der überzeugte Parteigenosse Förderer in Staat und Partei, die einem mit der NS-Ideologie kompatiblen „Nordischen Expressionismus“ das Wort reden. Er stellt erfolgreich in Galerien und Museen aus, das Folkwang-Museum in Essen erwirbt seine Werke. Spätestens 1937 jedoch, im Entstehungsjahr von „Meer und Himmel“, dreht sich der Wind. Noldes Werke werden nun offiziell und von höchster Stelle aus als „undeutsch“ und „entartet“ diffamiert und in den Museen beschlagnahmt. Am 19. Juli 1937 eröffnet die nationalsozialistische Propagandaschau Entartete Kunst in München. In der Hetzausstellung im Galeriegebäude am Hofgarten werden 33 seiner Werke präsentiert – kein anderer Künstler ist so darin stark vertreten.

Nolde wird aufgefordert, aus der Preußischen Akademie der Künste auszutreten, der er seit 1931 angehört. Der Künstler weigert sich und beruft sich auf seine NSDAP-Mitgliedschaft – mit Erfolg. Auch an seiner antisemitischen Einstellung lässt er nicht zweifeln. Bereits unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme denunziert er den Künstler Max Pechstein beim Reichspropagandaministerium, indem er auf dessen angebliche jüdische Abstammung hinweist. Die sich verschärfende antisemitische Politik des Regimes kommentiert er beifällig.
„Daß die Opperation zur Entfernung der Juden, die sich so tief in alle Völker hineingebohrt haben, nicht ohne viel Weh geschehen kann, muß man verstehen können.“
Emil Nolde an seinen Schweizer Freund Hans Fehr, 29.10.1938 | Archiv der Nolde Stiftung Seebüll
Auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs reagieren Nolde und seine Frau mit nationaler Begeisterung und bekräftigen erneut ihre Loyalität gegenüber Adolf Hitler und dem NS-Regime.
Noldes Kunst dagegen bleibt offiziell verfemt. 1941 wird er wegen „mangelnder Zuverlässigkeit“ aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen; seine Werke dürfen fortan weder ausgestellt noch verkauft werden. Trotz dieses Berufsverbots identifiziert sich Nolde weiterhin mit dem Nationalsozialismus und seinen Zielen. An seinem Antisemitismus hält er auch angesichts der sich stetig radikalisierenden antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes fest. Bis fast zuletzt hofft er auf den vielbeschworenen „Endsieg“.
Nach Kriegsende muss Nolde sich einem Entnazifizierungsverfahren stellen, aus dem er 1946 trotz seiner Parteimitgliedschaft als Entlasteter hervorgeht. Die Diffamierung seiner Kunst gilt als Beweis seiner Ablehnung des NS-Regimes. Er stilisiert sich erfolgreich als Opfer des NS-Regimes und seiner Kunstpolitik. Das Berufsverbot stellt er als Malverbot dar. Belastende Zeugnisse vernichtet er, säubert seine autobiografischen Schriften und verkehrt in seinen Selbstäußerungen seine Haltung zum Nationalsozialismus ins Gegenteil.
„Hinsichtlich meiner Person bemerke ich, dass ich seit dem Regierungswechsel 1933 in steigendem Masse verfolgt wurde, dann zum Schutz meines Werkes in die Partei eintrat und (...) später aus der Reichskammer der Bildenden Küste ausgeschlossen wurde, womit ein Mal- und Verkaufsverbot verbunden war.“
Emil Nolde am 18.6.1946 in einer eidesstattlichen Erklärung | Archiv der Nolde Stiftung Seebüll
Seit 1946 werden Noldes Werke wieder öffentlich ausgestellt, erstmals im Rahmen der Ausstellung Befreite Kunst in Niedersachsen. Anlässlich seines 79. Geburtstags wird der Künstler am 7. August 1946 durch den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten zum Ehrenprofessor ernannt, ein Jahr später feiern Galerien und Museen in ganz Westdeutschland den Achtzigjährigen. Die Kunstwelt und die Öffentlichkeit übernehmen Noldes Selbstinszenierung als Opfer des Nationalsozialismus bereitwillig. Die junge Bundesrepublik, bemüht um Abgrenzung von der nationalsozialistischen Diktatur, schreibt sich die Ehrenrettung der künstlerischen Moderne und insbesondere des Expressionismus auf die Fahnen: gewissermaßen als Akt der „Wiedergutmachung“. Der vormals verfemte Nolde erfährt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen und steht damit stellvertretend für die Deutschen, die unter der NS-Diktatur litten – so will es das westdeutsche Entlastungsnarrativ. Dass er Parteigänger des Nationalsozialismus war, wird verdrängt.
1956 stirbt Nolde in seinem Haus in Seebüll. Eine von ihm verfügte Stiftung soll sein Andenken aufrecht erhalten und sein Werk verwalten. Jahrzehntelang pflegt und verbreitet sie den Mythos des verfolgten Künstlers. Neuauflagen von Noldes autobiografischen Schriften und Briefeditionen werden von antisemitischen Passagen gereinigt, Biografen schreiben die Opfererzählung fest. Mit der Veröffentlichung von Siegfried Lenz’ Roman Deutschstunde im Jahr 1968, in dessen Mittelpunkt ein von der Gestapo überwachter Maler steht und der an Noldes – geschönter – Lebensgeschichte angelehnt ist, wird die Legende vom widerständigen Künstler weiter popularisiert. Von Lenz unbeabsichtigt, leistet das Buch der Selbstentschuldung Noldes weiter Vorschub. Der Expressionist wird zum Aushängeschild eines anderen, geläuterten Deutschlands. Seine Werke finden Eingang in die Amtsräume der Regierenden, von Bundespräsident Gustav Heinemann über Bundeskanzler Helmut Schmidt bis hin zu Angela Merkel.

Über ein halbes Jahrhundert dauert es, bis Noldes NS-Affinität in der Wissenschaft zum Thema wird, zwei weitere Jahrzehnte, bis sie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und bewusst wird. Dies ist vor allem das Verdienst der großen Nolde-Ausstellung von 2019 im Hamburger Bahnhof in Berlin.
Dass Noldes Gemälde Meer und Himmel nun Teil der Wechselausstellung Tell me about yesterday tomorrow im NS-Dokumentationszentrum München ist, hat nichts mit einem erneuten „Vorführen“ des Künstlers zu tun. Es geht nicht darum, sich zur moralischen Instanz zu erheben und über Nolde und sein Werk zu richten. Es geht vielmehr um das Sichtbarmachen der Grau- und Zwischentöne, der Ungereimtheiten in Leben und Œuvre des Künstlers. Nolde nun vom Opfer zum Täter zu machen und seine Kunst zu verdammen, wäre eine falsche Konsequenz. Der historischen Wirklichkeit näher kommt eine Sichtweise, die Nolde als das sieht, was er war: ein Künstler, dessen Werk seitens des NS-Regimes verfemt wurde, zugleich aber ein überzeugter Nationalsozialist und Hitler-Verehrer, Antisemit und völkischer Nationalist. Und nicht zuletzt ein Meister der Selbstentlastung, der auf eine Gesellschaft stieß, die seiner Opfererzählung nur allzu gerne Glauben schenkte und sie zu der ihren machte.
Von Ulla-Britta Vollhardt, wissenschaftliche Mitarbeiterin des NS-Dokumentationszentrums München
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Emil Nolde. Eine deutsche Legende – Der Künstler im Nationalsozialismus, 2 Bde., hg. von Bernhard Fulda, Christian Ring und Aya Soika, München 2019