
„… in dem Bewusstsein, dass Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, immer wieder verfolgt werden können.“
Zum Gedenken an die Verfolgung der Homosexuellen
Homosexualität fühlt sich für die Betroffenen normal an – und sollte es auch für alle anderen. Historisch gesehen gab es in heterosexuellen Mehrheitsgesellschaften, etwa dem Deutschen Reich, wenig Akzeptanz für sexuelle Vielfalt – zur Unterdrückung von Homosexualität wurden Strafrechtsparagraphen wie 1872 der deutsche § 175 geschaffen. Auch wenn die strafrechtliche Verfolgung der Homosexualität heute Geschichte ist, lehnt ein gewisser Anteil der Bevölkerung sichtbar schwul und lesbisch lebende Menschen noch immer ab. Umso wichtiger ist es, auf die Geschichte, aber auch die anhaltende Problematik der Diskriminierung aufmerksam zu machen. Diesem Zweck dienen unter anderem der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie (IDAHOBIT) am 17. Mai sowie der weltweit an unterschiedlichen Tagen begangene Christopher-Street-Day (CSD).
Als der Zweite Weltkrieg vorbei war und die NS-Diktatur damit im Mai 1945 ein Ende nahm, standen die homosexuellen Überlebenden vor denselben Ungewissheiten wie andere Verfolgte des Regimes: Waren ihre Partner*innen ebenfalls verschleppt oder sogar ermordet worden, ihre Wohnungen zwangsgeräumt? Erschwerend kam hinzu, dass der von den Nationalsozialisten verschärfte Strafrechtsparagraph 175 noch bis 1969 unverändert bestehen blieb – endgültig abgeschafft wurde er erst 1994.(1) An eine Entschädigung für das Leid und den Verlust war nicht zu denken, denn eine solche wurde nur für eine Verfolgung aus „rassischen“, politischen oder religiösen Gründen gewährt. Zudem konnte ein mit einem Antrag auf Entschädigung verbundenes Outing ein neuerliches Ermittlungsverfahren auslösen.
1994, im Jahr der Abschaffung des §175, übergab die LGBTI*-Community in Frankfurt am Main das erste (voll)plastische Denkmal zur Erinnerung an die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung homosexueller Frauen und Männer der deutschen Öffentlichkeit. Dieses als Frankfurter Engel bezeichnete Kunstwerk wurde von der deutschen Künstlerin Rosemarie Trockel geschaffen. Die in den monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam bekannte, gottgeschaffene, meist androgyne Gestalt des Engels symbolisiert Schönheit und Unschuld. Auf dem Sockel der Frankfurter Statue ist zu lesen:
„Homosexuelle Männer und Frauen wurden im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet. Die Verbrechen wurden geleugnet, die Getöteten verschwiegen, die Überlebenden verachtet und verurteilt. Daran erinnern wir in dem Bewusstsein, dass Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, immer wieder verfolgt werden können.“
Bevor das Denkmal auf dem wenig später nach Klaus Mann benannten Platz in Frankfurt installiert wurde, war es bereits im Rahmen der Ausstellung Widerstand – Denkbilder für die Zukunft im Haus der Kunst in München zu sehen. Das Haus der Kunst war als Haus der Deutschen Kunst 1937 von den Nationalsozialisten eröffnet worden; heute gehört es weltweit zu den berühmtesten Museen für internationale zeitgenössische Kunst.
Nun hat Rosemarie Trockel für die Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow des NS-Dokumentationszentrums München eine Variante des Frankfurter Engels geschaffen. Es handelt sich um eine überlebensgroße Neufassung, für die der Bronze-Engel zunächst gescannt und dann durch ein 3D-Druckverfahren repliziert wurde. Die Dimension der Plastik greift die Monumentalität der klassizistischen Bauten Ludwigs I. am Münchner Königsplatz und die neoklassizistischen Relikte der NS-Zeit auf. Ihre herausgehobene Platzierung im Foyer des NS-Dokumentationszentrums ermöglicht Sichtbezüge zur gebauten Umgebung.

Indem Trockel ihre Arbeit von 1994 erneut aufgreift, macht sie deutlich, dass das Thema nicht abgeschlossen ist. Auch heute noch – bzw. wieder – werden Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung diskriminiert und müssen für ihre Gleichberechtigung kämpfen.
Dabei ist die Präsenz und Akzeptanz von Homosexualität in unserer Gesellschaft durchaus gewachsen: Ab 1994 hatte Berlin einen schwulen Bürgermeister („Ich bin schwul – und das ist auch gut so", erklärte Klaus Wowereit 2001), das Land einen schwulen Außenminister (2009-2013, Guido Westerwelle) und immer mehr prominente Parlamentarier*innen, Fernsehmoderator*innen und Spitzensportler*innen wurden seitdem als lesbisch oder schwul sichtbar. Dennoch stellt die sexuelle Identität von Menschen, sofern sie von der vermeintlichen heterosexuellen „Norm“ abweicht, für viele in unserer Gesellschaft noch immer ein Problem dar. Dahinter stehen häufig eigene Ängste und gefühlte Konflikte mit tradierten Werten und Normen.
Homophobie, die Feindseligkeit gegenüber Schwulen, Lesben, Bi-, Trans- und Intersexuellen, ist jedoch mehr als die Summe individueller unreflektierter Ängste, sondern ein gesellschaftspolitisches Problem – vor allem dann, wenn Menschen Ziel von Anfeindungen werden und dadurch in ihren Handlungen eingeschränkt werden. Wenn lesbische Mädchen aus Furcht vor Beleidigungen oder gewalttätigen Übergriffen es nicht wagen, sich öffentlich zu küssen, wenn schwule Jungen sich nicht trauen, Hand in Hand zu gehen, wenn sie sich also nicht genauso verhalten können wie heterosexuelle Menschen, dann ist ihre Freiheit eingeschränkt und die Gesellschaft muss sie aktiv schützen. Fast jede*r Zweite, 45 Prozent aller queeren Menschen in Deutschland trauen sich nicht, ihre Identität in der Öffentlichkeit zu leben, 36 Prozent der queeren Menschen berichten von Belästigungen.(2)
Wenige Schritte von der Neufassung des Frankfurter Engels, neben dem Vorplatz des NS-Dokumentationszentrums, wurden Mitte Januar 2020 Wahlplakate der Münchner Wählervereinigung rosa liste, die für die Belange der LGBTI*-Community eintritt, verunstaltet. Die rosa liste tritt seit 1989 bei kommunalen Wahlen an und stellt seit 24 Jahren ein Mitglied im Stadtrat, Thomas Niederbühl.
Ein Plakat, auf dem Thomas Niederbühl abgebildet ist, wurde mit dem Wort „schwul“ bekritzelt, auf einem zweiten wurde sein Mund mit einem Aufkleber überklebt und daneben geschrieben: „Kein § 175...“.
Soll hier Bedauern über den Wegfall des Verbots-Paragraphen zum Ausdruck gebracht werden oder die Forderung, keinen „175er“ – so nannte man schwule Männer vor allem in der NS-Zeit und in den 50er/60er Jahren in Anlehnung an den Paragraphen – in den Stadtrat zu wählen? Rechtsradikale und rechtskonservative Kreise versuchen aktuell wieder, die von der LGBTI*-Community erkämpften Rechte in Frage zu stellen oder zumindest das Sicherheitsgefühl der Betroffenen zu beeinträchtigen und sie so aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.
Die Vokabeln „schwul“ oder „lesbisch“ werden noch immer zur Herabwürdigung queerer Kinder und Teenager*innen benutzt oder solcher, die dafür gehalten werden – gerade auch auf Schulhöfen. Die Suizidrate unter LGBTI*-Teenager*innen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung ausgegrenzt und bedroht fühlen, ist vier- bis sechsmal so hoch wie unter heterosexuellen Teenager*innen.(3) Auch in Deutschland nimmt die Gewalt gegen LGBTI* zu, das Berliner Gewalt-Präventionsprojekt Maneo verzeichnete im letzten Jahr eine Steigerung um 32 Prozent.(4) Die bayerische Staatsregierung sieht bislang keinen Handlungsbedarf zum Schutz von Schwulen, Lesben, Trans- und Intersexuellen, sie erließ nicht einmal einen lange geforderten Aktionsplan gegen homophobe Gewalt, wie es ihn in allen anderen Bundesländern bereits gibt.(5) Umso wichtiger ist es, Kindern und Teenager*innen die Vielfalt der Welt aufzuzeigen und die Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von ihren Vorstellungen, Identitäten und Orientierungen. Dieses Thema sollte in die Frühpädagogik und in Lehrpläne einfließen, aber noch immer ist eine unvoreingenommene Aufklärung von Kindern und Jugendlichen über das Thema sexuelle Identität und Selbstbestimmung, wie sie beispielsweise der Verein Queere Bildung e.V. durchführt, hierzulande nicht möglich.
Nach Jahrzehnten der Verweigerung der Gleichstellung von Homosexuellen wurde die 2001 geschaffene „Eingetragenen Lebenspartnerschaft“ gefeiert, doch letztlich verstetigte sie die Diskriminierung, die in vielen Detailregelungen fortbestand und die Lebenspartner*innen auch in ihren Reisepässen durch den Familienstand als Homosexuelle auswies. Seit Juni 2017 gibt es die „Ehe für alle“. Gravierende Benachteiligungen, etwa bei medizinischen Leistungen (Reproduktionsmedizin) (6) oder beim Abstammungsrecht bestehen jedoch weiter: Kinder, die in Ehen lesbischer Mütter geboren werden, haben nur einen Elternteil, die zweite Mutter muss eine Stiefkindadoption beantragen.(7) Noch immer ist es homo- und bisexuellen Männern verboten, Blut zu spenden.(8) Immer noch zögern homosexuelle Menschen, sich in ihrem Arbeitsumfeld zu outen aus Furcht vor Mobbing und Karrierehindernissen.
Zahlreiche evangelische Landeskirchen und die gesamte katholische Kirche verbieten Eheschließungen für schwule oder lesbische Paare analog zu heterosexuellen Paaren.(9) Christlichen Menschen wird also noch immer vermittelt, dass eine LGBTI*-Partnerschaft nicht gleichwertig mit einer heterosexuellen Verbindung sei – in anderen Religionen sieht es oft nicht viel besser aus, nur dezidiert liberale Gemeinden beispielsweise im Judentum oder Islam stellen LGBTI*-Beziehungen heterosexuellen Beziehungen weitgehend gleich.
In vielen Bereichen haben die Kirchen und die gesamte Gesellschaft aus der gewaltvollen Geschichte der NS-Zeit gelernt – beim Umgang mit Schwulen, Lesben, Trans- und Intersexuellen ist der Lernprozess jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Aus diesem Grund wäre es wichtig, die zentrale Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag auch einmal dieser Verfolgtengruppe zu widmen.(10) Hierbei sollte auch auf die Verurteilungen wegen des §175 nach Ende des Krieges hingewiesen werden sowie auf die global leider noch immer aktuelle Bedrohungssituation für LGBTI*s, die so treffend in der Inschrift unter dem Frankfurter Engel benannt ist.
Von Angela Hermann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des NS-Dokumentationszentrums München
Quellen
(1) Durch die Novelle des Paragraphen 175 des StGB vom 28.6.1935 war nun jede „Unzucht“ unter Männern unter Strafe gestellt, es musste also, im Gegensatz zu früheren Fassungen des § 175, kein Beischlaf oder eine beischlafähnliche Handlung vorliegen.
Siehe Werner Hoche (Hrsg.): Die Gesetzgebung des Kabinetts Hitler. Die Gesetze in Reich und Preußen seit dem 30. Januar 1933 in systematischer Ordnung mit Sachverzeichnis, Heft 14: 1. Juni bis 15. August 1935. Berlin 1935, S. 194; Albert Dalcke: Strafrecht und Strafverfahren. Nachtrag. Berlin, München 311940, S. 158, auch Anm. 46 und 46a.
Siehe auch: https://taz.de/Abschaffung-des-Paragrafen-175/!5599062/ (aufgerufen am 30.06.2020)
(2) https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/rund-die-haelfte-lebt-orientierung-nicht-offen-aus-a-bc3a5143-3564-4c3e-bc12-4bde55b7357e (aufgerufen am 26.06.2020)
(3) Vgl.: https://jamanetwork.com/journals/jamapediatrics/article-abstract/2704490?widget=personalizedcontent&previousarticle=0 (aufgerufen am 26.06.2020)
(4) https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-berlin-bericht-so-viele-uebergriffe-gegen-homosexuelle-wie-noch-nie-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200515-99-71825 (aufgerufen am 26.06.2020)
(5) https://www.lsvd.de/de/ct/424-Welche-Bundesl%C3%A4nder-haben-Aktionspl%C3%A4ne-gegen-Homo-und-Transphobie (aufgerufen am 26.06.2020)
(6) https://www.bento.de/queer/kinderwunsch-wie-lesbische-paare-von-deutschen-kliniken-benachteiligt-werden-a-15f578f4-81bb-464e-bef8-9e23e31cef74 (aufgerufen am 26.06.2020)
https://www.queer.de/detail.php?article_id=33223 (aufgerufen am 26.06.2020)
(7) https://www.zeit.de/2020/05/familie-lesbisches-paar-ehe-kinder-elternteil-sorgerecht (aufgerufen am 26.06.2020)
(8) https://www.aidshilfe.de/blutspendeverbot-schwule-bisexuelle-maenner (aufgerufen am 26.06.2020)
(9) https://www.br.de/nachrichten/bayern/streit-um-homo-hochzeit-segnen-ja-trauen-nein,RXEQZD0 (aufgerufen am 26.06.2020)
(10) https://www.queer.de/detail.php?article_id=35375 (aufgerufen am 26.06.2020)
alle beiträge
„… in dem Bewusstsein, dass Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, immer wieder verfolgt werden können.“
Zum Gedenken an die Verfolgung der Homosexuellen
Homosexualität fühlt sich für die Betroffenen normal an – und sollte es auch für alle anderen. Historisch gesehen gab es in heterosexuellen Mehrheitsgesellschaften, etwa dem Deutschen Reich, wenig Akzeptanz für sexuelle Vielfalt – zur Unterdrückung von Homosexualität wurden Strafrechtsparagraphen wie 1872 der deutsche § 175 geschaffen. Auch wenn die strafrechtliche Verfolgung der Homosexualität heute Geschichte ist, lehnt ein gewisser Anteil der Bevölkerung sichtbar schwul und lesbisch lebende Menschen noch immer ab. Umso wichtiger ist es, auf die Geschichte, aber auch die anhaltende Problematik der Diskriminierung aufmerksam zu machen. Diesem Zweck dienen unter anderem der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie (IDAHOBIT) am 17. Mai sowie der weltweit an unterschiedlichen Tagen begangene Christopher-Street-Day (CSD).
Als der Zweite Weltkrieg vorbei war und die NS-Diktatur damit im Mai 1945 ein Ende nahm, standen die homosexuellen Überlebenden vor denselben Ungewissheiten wie andere Verfolgte des Regimes: Waren ihre Partner*innen ebenfalls verschleppt oder sogar ermordet worden, ihre Wohnungen zwangsgeräumt? Erschwerend kam hinzu, dass der von den Nationalsozialisten verschärfte Strafrechtsparagraph 175 noch bis 1969 unverändert bestehen blieb – endgültig abgeschafft wurde er erst 1994.(1) An eine Entschädigung für das Leid und den Verlust war nicht zu denken, denn eine solche wurde nur für eine Verfolgung aus „rassischen“, politischen oder religiösen Gründen gewährt. Zudem konnte ein mit einem Antrag auf Entschädigung verbundenes Outing ein neuerliches Ermittlungsverfahren auslösen.
1994, im Jahr der Abschaffung des §175, übergab die LGBTI*-Community in Frankfurt am Main das erste (voll)plastische Denkmal zur Erinnerung an die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung homosexueller Frauen und Männer der deutschen Öffentlichkeit. Dieses als Frankfurter Engel bezeichnete Kunstwerk wurde von der deutschen Künstlerin Rosemarie Trockel geschaffen. Die in den monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam bekannte, gottgeschaffene, meist androgyne Gestalt des Engels symbolisiert Schönheit und Unschuld. Auf dem Sockel der Frankfurter Statue ist zu lesen:
„Homosexuelle Männer und Frauen wurden im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet. Die Verbrechen wurden geleugnet, die Getöteten verschwiegen, die Überlebenden verachtet und verurteilt. Daran erinnern wir in dem Bewusstsein, dass Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, immer wieder verfolgt werden können.“
Bevor das Denkmal auf dem wenig später nach Klaus Mann benannten Platz in Frankfurt installiert wurde, war es bereits im Rahmen der Ausstellung Widerstand – Denkbilder für die Zukunft im Haus der Kunst in München zu sehen. Das Haus der Kunst war als Haus der Deutschen Kunst 1937 von den Nationalsozialisten eröffnet worden; heute gehört es weltweit zu den berühmtesten Museen für internationale zeitgenössische Kunst.
Nun hat Rosemarie Trockel für die Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow des NS-Dokumentationszentrums München eine Variante des Frankfurter Engels geschaffen. Es handelt sich um eine überlebensgroße Neufassung, für die der Bronze-Engel zunächst gescannt und dann durch ein 3D-Druckverfahren repliziert wurde. Die Dimension der Plastik greift die Monumentalität der klassizistischen Bauten Ludwigs I. am Münchner Königsplatz und die neoklassizistischen Relikte der NS-Zeit auf. Ihre herausgehobene Platzierung im Foyer des NS-Dokumentationszentrums ermöglicht Sichtbezüge zur gebauten Umgebung.

Indem Trockel ihre Arbeit von 1994 erneut aufgreift, macht sie deutlich, dass das Thema nicht abgeschlossen ist. Auch heute noch – bzw. wieder – werden Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung diskriminiert und müssen für ihre Gleichberechtigung kämpfen.
Dabei ist die Präsenz und Akzeptanz von Homosexualität in unserer Gesellschaft durchaus gewachsen: Ab 1994 hatte Berlin einen schwulen Bürgermeister („Ich bin schwul – und das ist auch gut so", erklärte Klaus Wowereit 2001), das Land einen schwulen Außenminister (2009-2013, Guido Westerwelle) und immer mehr prominente Parlamentarier*innen, Fernsehmoderator*innen und Spitzensportler*innen wurden seitdem als lesbisch oder schwul sichtbar. Dennoch stellt die sexuelle Identität von Menschen, sofern sie von der vermeintlichen heterosexuellen „Norm“ abweicht, für viele in unserer Gesellschaft noch immer ein Problem dar. Dahinter stehen häufig eigene Ängste und gefühlte Konflikte mit tradierten Werten und Normen.
Homophobie, die Feindseligkeit gegenüber Schwulen, Lesben, Bi-, Trans- und Intersexuellen, ist jedoch mehr als die Summe individueller unreflektierter Ängste, sondern ein gesellschaftspolitisches Problem – vor allem dann, wenn Menschen Ziel von Anfeindungen werden und dadurch in ihren Handlungen eingeschränkt werden. Wenn lesbische Mädchen aus Furcht vor Beleidigungen oder gewalttätigen Übergriffen es nicht wagen, sich öffentlich zu küssen, wenn schwule Jungen sich nicht trauen, Hand in Hand zu gehen, wenn sie sich also nicht genauso verhalten können wie heterosexuelle Menschen, dann ist ihre Freiheit eingeschränkt und die Gesellschaft muss sie aktiv schützen. Fast jede*r Zweite, 45 Prozent aller queeren Menschen in Deutschland trauen sich nicht, ihre Identität in der Öffentlichkeit zu leben, 36 Prozent der queeren Menschen berichten von Belästigungen.(2)
Wenige Schritte von der Neufassung des Frankfurter Engels, neben dem Vorplatz des NS-Dokumentationszentrums, wurden Mitte Januar 2020 Wahlplakate der Münchner Wählervereinigung rosa liste, die für die Belange der LGBTI*-Community eintritt, verunstaltet. Die rosa liste tritt seit 1989 bei kommunalen Wahlen an und stellt seit 24 Jahren ein Mitglied im Stadtrat, Thomas Niederbühl.
Ein Plakat, auf dem Thomas Niederbühl abgebildet ist, wurde mit dem Wort „schwul“ bekritzelt, auf einem zweiten wurde sein Mund mit einem Aufkleber überklebt und daneben geschrieben: „Kein § 175...“.
Soll hier Bedauern über den Wegfall des Verbots-Paragraphen zum Ausdruck gebracht werden oder die Forderung, keinen „175er“ – so nannte man schwule Männer vor allem in der NS-Zeit und in den 50er/60er Jahren in Anlehnung an den Paragraphen – in den Stadtrat zu wählen? Rechtsradikale und rechtskonservative Kreise versuchen aktuell wieder, die von der LGBTI*-Community erkämpften Rechte in Frage zu stellen oder zumindest das Sicherheitsgefühl der Betroffenen zu beeinträchtigen und sie so aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.
Die Vokabeln „schwul“ oder „lesbisch“ werden noch immer zur Herabwürdigung queerer Kinder und Teenager*innen benutzt oder solcher, die dafür gehalten werden – gerade auch auf Schulhöfen. Die Suizidrate unter LGBTI*-Teenager*innen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung ausgegrenzt und bedroht fühlen, ist vier- bis sechsmal so hoch wie unter heterosexuellen Teenager*innen.(3) Auch in Deutschland nimmt die Gewalt gegen LGBTI* zu, das Berliner Gewalt-Präventionsprojekt Maneo verzeichnete im letzten Jahr eine Steigerung um 32 Prozent.(4) Die bayerische Staatsregierung sieht bislang keinen Handlungsbedarf zum Schutz von Schwulen, Lesben, Trans- und Intersexuellen, sie erließ nicht einmal einen lange geforderten Aktionsplan gegen homophobe Gewalt, wie es ihn in allen anderen Bundesländern bereits gibt.(5) Umso wichtiger ist es, Kindern und Teenager*innen die Vielfalt der Welt aufzuzeigen und die Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von ihren Vorstellungen, Identitäten und Orientierungen. Dieses Thema sollte in die Frühpädagogik und in Lehrpläne einfließen, aber noch immer ist eine unvoreingenommene Aufklärung von Kindern und Jugendlichen über das Thema sexuelle Identität und Selbstbestimmung, wie sie beispielsweise der Verein Queere Bildung e.V. durchführt, hierzulande nicht möglich.
Nach Jahrzehnten der Verweigerung der Gleichstellung von Homosexuellen wurde die 2001 geschaffene „Eingetragenen Lebenspartnerschaft“ gefeiert, doch letztlich verstetigte sie die Diskriminierung, die in vielen Detailregelungen fortbestand und die Lebenspartner*innen auch in ihren Reisepässen durch den Familienstand als Homosexuelle auswies. Seit Juni 2017 gibt es die „Ehe für alle“. Gravierende Benachteiligungen, etwa bei medizinischen Leistungen (Reproduktionsmedizin) (6) oder beim Abstammungsrecht bestehen jedoch weiter: Kinder, die in Ehen lesbischer Mütter geboren werden, haben nur einen Elternteil, die zweite Mutter muss eine Stiefkindadoption beantragen.(7) Noch immer ist es homo- und bisexuellen Männern verboten, Blut zu spenden.(8) Immer noch zögern homosexuelle Menschen, sich in ihrem Arbeitsumfeld zu outen aus Furcht vor Mobbing und Karrierehindernissen.
Zahlreiche evangelische Landeskirchen und die gesamte katholische Kirche verbieten Eheschließungen für schwule oder lesbische Paare analog zu heterosexuellen Paaren.(9) Christlichen Menschen wird also noch immer vermittelt, dass eine LGBTI*-Partnerschaft nicht gleichwertig mit einer heterosexuellen Verbindung sei – in anderen Religionen sieht es oft nicht viel besser aus, nur dezidiert liberale Gemeinden beispielsweise im Judentum oder Islam stellen LGBTI*-Beziehungen heterosexuellen Beziehungen weitgehend gleich.
In vielen Bereichen haben die Kirchen und die gesamte Gesellschaft aus der gewaltvollen Geschichte der NS-Zeit gelernt – beim Umgang mit Schwulen, Lesben, Trans- und Intersexuellen ist der Lernprozess jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Aus diesem Grund wäre es wichtig, die zentrale Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag auch einmal dieser Verfolgtengruppe zu widmen.(10) Hierbei sollte auch auf die Verurteilungen wegen des §175 nach Ende des Krieges hingewiesen werden sowie auf die global leider noch immer aktuelle Bedrohungssituation für LGBTI*s, die so treffend in der Inschrift unter dem Frankfurter Engel benannt ist.
Von Angela Hermann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des NS-Dokumentationszentrums München
Quellen
(1) Durch die Novelle des Paragraphen 175 des StGB vom 28.6.1935 war nun jede „Unzucht“ unter Männern unter Strafe gestellt, es musste also, im Gegensatz zu früheren Fassungen des § 175, kein Beischlaf oder eine beischlafähnliche Handlung vorliegen.
Siehe Werner Hoche (Hrsg.): Die Gesetzgebung des Kabinetts Hitler. Die Gesetze in Reich und Preußen seit dem 30. Januar 1933 in systematischer Ordnung mit Sachverzeichnis, Heft 14: 1. Juni bis 15. August 1935. Berlin 1935, S. 194; Albert Dalcke: Strafrecht und Strafverfahren. Nachtrag. Berlin, München 311940, S. 158, auch Anm. 46 und 46a.
Siehe auch: https://taz.de/Abschaffung-des-Paragrafen-175/!5599062/ (aufgerufen am 30.06.2020)
(2) https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/rund-die-haelfte-lebt-orientierung-nicht-offen-aus-a-bc3a5143-3564-4c3e-bc12-4bde55b7357e (aufgerufen am 26.06.2020)
(3) Vgl.: https://jamanetwork.com/journals/jamapediatrics/article-abstract/2704490?widget=personalizedcontent&previousarticle=0 (aufgerufen am 26.06.2020)
(4) https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-berlin-bericht-so-viele-uebergriffe-gegen-homosexuelle-wie-noch-nie-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200515-99-71825 (aufgerufen am 26.06.2020)
(5) https://www.lsvd.de/de/ct/424-Welche-Bundesl%C3%A4nder-haben-Aktionspl%C3%A4ne-gegen-Homo-und-Transphobie (aufgerufen am 26.06.2020)
(6) https://www.bento.de/queer/kinderwunsch-wie-lesbische-paare-von-deutschen-kliniken-benachteiligt-werden-a-15f578f4-81bb-464e-bef8-9e23e31cef74 (aufgerufen am 26.06.2020)
https://www.queer.de/detail.php?article_id=33223 (aufgerufen am 26.06.2020)
(7) https://www.zeit.de/2020/05/familie-lesbisches-paar-ehe-kinder-elternteil-sorgerecht (aufgerufen am 26.06.2020)
(8) https://www.aidshilfe.de/blutspendeverbot-schwule-bisexuelle-maenner (aufgerufen am 26.06.2020)
(9) https://www.br.de/nachrichten/bayern/streit-um-homo-hochzeit-segnen-ja-trauen-nein,RXEQZD0 (aufgerufen am 26.06.2020)
(10) https://www.queer.de/detail.php?article_id=35375 (aufgerufen am 26.06.2020)