
#TakeOver: Erinnerungsräume vergangener Aneignung und zukünftiger Verantwortung
Ein Gespräch mit Leon Kahane zu „Pitchipoï“ (2019)
In einem Hauptseminar der Ludwig-Maximilians-Universität München haben Master- und Bachelor-Studierende des Bereichs Kunstgeschichte den Entstehungsprozess der Wechselausstellung „Tell me about yesterday tomorrow“ intensiv begleitet. Sie setzten sich mit ausgewählten Kunstwerken auseinander, waren bei der Eröffnung am 27. November 2019 Ansprechpartner*innen für die Besucher*innen und haben mit einzelnen Künstler*innen Interviews geführt. Daraus sind nun Beiträge für den Blog zur Ausstellung entstanden.
„Pitchipoï“– ein Kunstwort, imaginiert von jüdischen Gefangenen im französischen Internierungslager Drancy während der NS-Zeit, um den unbekannten Ort nach der Deportation sprachlich fassbar zu machen; und titelgebend für eine Installation von Leon Kahane: „Das Wort ‚Pitchipoï‘ ist für mich viel stärker als das Wort ‚Auschwitz‘“.

Im Bereich der historischen Dauerausstellung des NS-Dokumentationszentrums, die sich der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 widmet, sehen die Besucher*innen eine Tuschegrafik. Gezeichnet wurde sie von der Großmutter des Künstlers, die ebenfalls im Sammellager Drancy interniert war. Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Bezug auf die eigene Familiengeschichte für den Künstler? „Mir wird bewusst, wie eng ich an die deutsche Geschichte, an die Geschichte des Antisemitismus gebunden bin. Es ist ein ambivalentes Gefühl, denn einerseits frage ich mich, wieso ich das machen muss? Gleichzeitig verspüre ich Verantwortung. [...] Das macht wütend, traurig und in gewisser Weise stolz, denn es ist das einzige, was bleibt.“
Im Zentrum der Zweikanal-Videoarbeit steht die Cité de la Muette, die in den dreißiger Jahren als soziales Wohnbauprojekt errichtet worden war. Das Gebäude zeichnet sich durch seine modernistische Bauweise, einst am Gemeinwohl orientiert, aus und wurde zwischen 1940 und 1944 durch das Vichy- und NS-Regime als Sammellager umfunktioniert. Auf dem rechten Bildschirm sind Aufnahmen der Architektur und Bewohner*innen im Drancy der Gegenwart zu sehen. Gerade im Ausstellungskontext des NS-Dokumentationszentrums, das auf den Trümmern des ehemaligen „Braunen Hauses“ steht, erscheint ein Nachdenken über historisch belastete Architektur dringlich. Der Künstler resümiert: „Die Aneignung moderner Überlegungen, die der Gesellschaft helfen sollten, und der Missbrauch antimoderner, menschenverachtender Ideologien ist ein Klassiker. […] Die Normalität, die dort heute Einzug gehalten hat, ist das Schrecklichste und andererseits will man es auch.“

Im linken Video führt Lucien Tinader, der sich ehrenamtlich um die Erinnerung an die konfliktive Vergangenheit kümmert, über das Areal. Die Kameraaufnahmen werden durch die Erläuterungen des Zeitzeugens in gelber Schrift überblendet und dokumentieren signalhaft das baldige Verstummen dieses direkten Zugangs zur Geschichte. Tinader war maßgeblich an der Gründung einer Gedenkstätte in der Cité beteiligt, die Kahane abfotografiert hat. „Auf der ersten Platte sind jüdische Kämpfer des ersten Weltkriegs, aber auch senegalesische Bataillone der ehemaligen Kolonien zu sehen. Das kommt alles in diesem Lager zusammen. Deswegen ist es für mich das vermeintliche Idealbild. Ich sehe kaum einen Konflikt, der mich aktuell politisch interessiert, der sich dort nicht stellvertretend abbildet.“

Angesichts gegenwärtiger Annäherungen an fern geglaubte Rassismen fragt Kahanes Installation also auch: Welche Bilder und Erzählungen werden durch Erinnerungskulturen repräsentiert? Wie kann Ambivalenz ausgedrückt werden? Wie finden verschiedene Geschichte innerhalb eines kollektiven Gedenkens Platz? Im Konnex von Zeitlichkeit und Zeitgenossenschaft eröffnet Pitchipoï einen nahbaren Erinnerungsraum. Darin kommt die Widersprüchlichkeit und Kontinuität von Geschichte(n) zum Ausdruck.
Von Mareike Schwarz, Studierende der Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München
alle beiträge
#TakeOver: Erinnerungsräume vergangener Aneignung und zukünftiger Verantwortung
Ein Gespräch mit Leon Kahane zu „Pitchipoï“ (2019)
In einem Hauptseminar der Ludwig-Maximilians-Universität München haben Master- und Bachelor-Studierende des Bereichs Kunstgeschichte den Entstehungsprozess der Wechselausstellung „Tell me about yesterday tomorrow“ intensiv begleitet. Sie setzten sich mit ausgewählten Kunstwerken auseinander, waren bei der Eröffnung am 27. November 2019 Ansprechpartner*innen für die Besucher*innen und haben mit einzelnen Künstler*innen Interviews geführt. Daraus sind nun Beiträge für den Blog zur Ausstellung entstanden.
„Pitchipoï“– ein Kunstwort, imaginiert von jüdischen Gefangenen im französischen Internierungslager Drancy während der NS-Zeit, um den unbekannten Ort nach der Deportation sprachlich fassbar zu machen; und titelgebend für eine Installation von Leon Kahane: „Das Wort ‚Pitchipoï‘ ist für mich viel stärker als das Wort ‚Auschwitz‘“.

Im Bereich der historischen Dauerausstellung des NS-Dokumentationszentrums, die sich der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 widmet, sehen die Besucher*innen eine Tuschegrafik. Gezeichnet wurde sie von der Großmutter des Künstlers, die ebenfalls im Sammellager Drancy interniert war. Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Bezug auf die eigene Familiengeschichte für den Künstler? „Mir wird bewusst, wie eng ich an die deutsche Geschichte, an die Geschichte des Antisemitismus gebunden bin. Es ist ein ambivalentes Gefühl, denn einerseits frage ich mich, wieso ich das machen muss? Gleichzeitig verspüre ich Verantwortung. [...] Das macht wütend, traurig und in gewisser Weise stolz, denn es ist das einzige, was bleibt.“
Im Zentrum der Zweikanal-Videoarbeit steht die Cité de la Muette, die in den dreißiger Jahren als soziales Wohnbauprojekt errichtet worden war. Das Gebäude zeichnet sich durch seine modernistische Bauweise, einst am Gemeinwohl orientiert, aus und wurde zwischen 1940 und 1944 durch das Vichy- und NS-Regime als Sammellager umfunktioniert. Auf dem rechten Bildschirm sind Aufnahmen der Architektur und Bewohner*innen im Drancy der Gegenwart zu sehen. Gerade im Ausstellungskontext des NS-Dokumentationszentrums, das auf den Trümmern des ehemaligen „Braunen Hauses“ steht, erscheint ein Nachdenken über historisch belastete Architektur dringlich. Der Künstler resümiert: „Die Aneignung moderner Überlegungen, die der Gesellschaft helfen sollten, und der Missbrauch antimoderner, menschenverachtender Ideologien ist ein Klassiker. […] Die Normalität, die dort heute Einzug gehalten hat, ist das Schrecklichste und andererseits will man es auch.“

Im linken Video führt Lucien Tinader, der sich ehrenamtlich um die Erinnerung an die konfliktive Vergangenheit kümmert, über das Areal. Die Kameraaufnahmen werden durch die Erläuterungen des Zeitzeugens in gelber Schrift überblendet und dokumentieren signalhaft das baldige Verstummen dieses direkten Zugangs zur Geschichte. Tinader war maßgeblich an der Gründung einer Gedenkstätte in der Cité beteiligt, die Kahane abfotografiert hat. „Auf der ersten Platte sind jüdische Kämpfer des ersten Weltkriegs, aber auch senegalesische Bataillone der ehemaligen Kolonien zu sehen. Das kommt alles in diesem Lager zusammen. Deswegen ist es für mich das vermeintliche Idealbild. Ich sehe kaum einen Konflikt, der mich aktuell politisch interessiert, der sich dort nicht stellvertretend abbildet.“

Angesichts gegenwärtiger Annäherungen an fern geglaubte Rassismen fragt Kahanes Installation also auch: Welche Bilder und Erzählungen werden durch Erinnerungskulturen repräsentiert? Wie kann Ambivalenz ausgedrückt werden? Wie finden verschiedene Geschichte innerhalb eines kollektiven Gedenkens Platz? Im Konnex von Zeitlichkeit und Zeitgenossenschaft eröffnet Pitchipoï einen nahbaren Erinnerungsraum. Darin kommt die Widersprüchlichkeit und Kontinuität von Geschichte(n) zum Ausdruck.
Von Mareike Schwarz, Studierende der Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München