
„This makes me want to remember the future“
Das OEZ-Attentat neu beleuchtet
Der 22. Juli 2016 schien ein gewöhnlicher sommerlicher Freitagabend in München zu sein bis die schockierende Nachricht eines zunächst als Amoklauf gedeuteten rechtsextremistischen Attentats im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) die Menschen erreichte. Verwackelte Smartphonevideos, unbestätigte Informationen und diffuse Berichte dominierten die Sozialen Medien.
Schlagartig wechselte die Stimmung in der ganzen Stadt in eine düster-besorgte Angespanntheit. Diese Ambivalenz von Düsterheit und heiterer Shoppingtour fängt die Münchner Künstlerin und Filmemacherin Cana Bilir-Meier in This Makes Me Want to Predict the Past auf beeindruckende Weise ein. In ihrer in Schwarz-weiß und stark reduziertem Licht gehaltenen Videoarbeit erkunden die drei Mädchen Aleyna Osmanoğlu, Sosuna Yildiz und Berfin Ünsal das OEZ. Mit ihren kurdischen und türkischen Wurzeln passen die drei in das Opferschema des Attentats: Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die drei Mädchen stellen Szenen des Theaterstücks Düşler Ülkesi (Land der Träume) nach und probieren zugleich Kleidung, Accessoires und Kosmetika an – typische Handlungen für einen Besuch von Teenagerinnen in einem Einkaufszentrum.
Dabei filmt Cana Bilir-Meier auch die Tatorte des Attentats ab: Unter ihnen die McDonald‘s Filiale, in die der 18-jährige Attentäter David (Ali) S. Jugendliche mit einer Einladung auf seinem gefakten Facebookprofil gelockt hatte. Dort hatte er auf eine sechsköpfige Gruppe von Kindern und Jugendlichen geschossen und fünf Menschen getötet sowie ein 13-jähriges Kind lebensgefährlich verletzt. Auch vor der Filiale in der Hanauer Straße traf der Täter zwei Menschen tödlich und verletzte drei weitere schwer. Etwas weiter südlich in dieser Straße erschoss er einen weiteren Menschen, bevor er sich in das Erdgeschoss des OEZ begab, dort eine weitere Person tötete und sich nach stundenlanger Flucht schließlich selbst erschoss. Fast alle der neun ermordeten Menschen haben Migrationshintergrund, unter ihnen sind sieben Muslime, ein Rom und ein Sinto.

Die Videoarbeit von Cana Bilir-Meier beginnt mit einer Szene auf einer Treppe des U-Bahnaufgangs zum Olympia-Einkaufzentrum. Die jungen Darstellerinnen sehen in die Kamera und der Satz „This Makes Me Want to Predict the Past“ ertönt. In diesem Moment blicken die Mädchen nach oben zu einer Litfaßsäule. Einzig ein Plakat mit dem Wort „War“ (Krieg) ist darauf zu lesen.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Zeitschiene noch völlig unklar, die Zuschauer*innen wissen nicht, ob das Attentat gleich beginnt oder schon vorüber ist. So baut sich ein interessanter Spannungsbogen auf, der kurz vor dem Abspann mit der Einblendung der Tatorte und des Denkmals für die Attentatsopfer endet. Die Darstellerinnen nehmen die Zuschauer*innen mit auf eine Shoppingtour und Spurensuche rund um die Tatorte des OEZ. Zu hören sind währenddessen einzelne Sätze, die zumeist mit „this makes me...“ beginnen. Es sind YouTube-Kommentare zu dem Song Redbone des Musikers Childish Gambino, die sich auf eine Verszeile des Songs beziehen und diese neu interpretieren. Sie sind vom Wunsch getragen, die Realität ins Gegenteil zu verkehren, wie beispielsweise: „This makes me let my food eat me“; „This makes me fall and hurt the ground“; „This makes me wanna call someone and say, I can‘t talk“.

Schweigen ist zu hören bei der Einblendung der Tatorte und des Denkmals für die Attentatsopfer mit dem Titel „Für Euch“ der Künstlerin Elke Härtel. Im letzten Teil des Films, der dem Leben nach dem Attentat gewidmet ist, ertönt eine Hoffnung gebende, von Nihan Devecioğlu und Gustavo Kusnir vertonte Musik. Das Leben mit dem Verlust ist für die Angehörigen von Sevda Dağ, Chousein/Hüseyin Dayıcık, Selçuk Kılıç, Giuliano Josef Kollmann, Can Leyla, Janos Roberto Rafael, Armela Segashi, Sabina Sulaj und Dijamant Zabërgja schmerzhaft. Erschwerend kommt hinzu, dass das rechtsextreme Tatmotiv von David (Ali) S. lange Zeit offiziell nicht als solches bestätigt wurde, sondern die Tat als Amoklauf, ausgelöst durch psychische Probleme als Folge von Mobbing, galt: Schon wenige Tage nach der Tat war aber bekannt, dass S. ein „Manifest“ verfasst hatte. In ihm erklärte er, er wolle „ausländische Untermenschen“, die er auch mit Ungeziefermetaphern beschrieb, „exekutieren“. Rasch drang an die Öffentlichkeit, dass S. stolz auf seine angeblich „arische“ Herkunft (seine Eltern stammen aus dem Iran) sowie auf sein Geburtsdatum 20. April sei, das er mit Adolf Hitler gemeinsam hatte. Jahrestage faszinierten ihn, sodass er für seine Tat den 5. Jahrestag des rechtsextremen Attentats von Utøya und Olso mit 77 Toten wählte.
Obwohl die rechtsextreme Gesinnung des Täters feststand, stuften das Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft die Tat in ihrem Abschlussbericht vom März 2017 zunächst als „Amoklauf“ ein. Auch im Untersuchungsbericht des Bayerischen Innenministeriums vom April 2017 wurde „Rache“ für Mobbing als Hauptmotiv angenommen. Vertreter*innen der Opfer-Angehörigen sowie Landtagsabgeordnete vor allem von SPD und Grünen forderten eine Neubewertung des Falls. Drei Gutachten unterschiedlicher Expert*innen, die von der Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München in Auftrag gegeben worden waren, kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass es sich um eine rechtsextreme Tat bzw. um Rechtsterrorismus handelt.(1) Das Bundesamt für Justiz stufte die Tat im März 2018 ebenfalls als rechtsextrem ein und benachrichtigte die Familien.

Mittlerweile war auch ein Großteil der Internetaktivitäten von S. aufgeklärt worden, wodurch sich Kontakte zu rechtsextremen Gruppierungen nachweisen ließen. Im Oktober 2019 schwenkte auch das Landeskriminalamt um und bewertet den Fall seitdem als rechte „politisch motivierte Gewaltkriminalität“.(2) Den Hinterbliebenen sowie den verletzten Überlebenden hilft diese Neubewertung: einerseits, um mit dem Verlust besser umgehen zu können und andererseits durch einen nun möglichen Anspruch auf Hilfeleistungen. Das den Opfern gewidmete Denkmal am OEZ hat nun eine neue Inschrift erhalten, die der Neubewertung Rechnung trägt: “In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats vom 22.7.2016". Ursprünglich lautete sie: „In Erinnerung an alle Opfer des Amoklaufs vom 22.7.2016“.(3)

Migration schützt nicht vor Rassismus – auch nicht vor Rassismus im eigenen Denken. Cana Bilir-Meier ist dies bewusst, wenn sie fordert:
„Mir ist wichtig, dass wir den Rassismus unserer eigenen Communities hinterfragen. [...] Der junge Mann, der den rassistischen Anschlag gemacht hat, hatte eine eigene Migrationserfahrung.“
Insofern ist Cana Bilir-Meiers Werk ein Appell an uns alle zur Selbstreflexion.(4)
Es ist eine Aufforderung sich mit den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen und denjenigen zuzuhören, die von Rassismuserfahrungen erzählen. Auf der Tonspur von „This Makes Me Want to Predict the Past“ ist auch der folgende Satz zu hören: „This makes me want to remember the future“ – er rührt an ein zentrales Motiv der Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow: Nachzudenken über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und über die gesellschaftliche Funktion von Erinnerung.

Von Angela Hermann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des NS-Dokumentationszentrums München
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„This makes me want to remember the future“
Das OEZ-Attentat neu beleuchtet
Der 22. Juli 2016 schien ein gewöhnlicher sommerlicher Freitagabend in München zu sein bis die schockierende Nachricht eines zunächst als Amoklauf gedeuteten rechtsextremistischen Attentats im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) die Menschen erreichte. Verwackelte Smartphonevideos, unbestätigte Informationen und diffuse Berichte dominierten die Sozialen Medien.
Schlagartig wechselte die Stimmung in der ganzen Stadt in eine düster-besorgte Angespanntheit. Diese Ambivalenz von Düsterheit und heiterer Shoppingtour fängt die Münchner Künstlerin und Filmemacherin Cana Bilir-Meier in This Makes Me Want to Predict the Past auf beeindruckende Weise ein. In ihrer in Schwarz-weiß und stark reduziertem Licht gehaltenen Videoarbeit erkunden die drei Mädchen Aleyna Osmanoğlu, Sosuna Yildiz und Berfin Ünsal das OEZ. Mit ihren kurdischen und türkischen Wurzeln passen die drei in das Opferschema des Attentats: Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die drei Mädchen stellen Szenen des Theaterstücks Düşler Ülkesi (Land der Träume) nach und probieren zugleich Kleidung, Accessoires und Kosmetika an – typische Handlungen für einen Besuch von Teenagerinnen in einem Einkaufszentrum.
Dabei filmt Cana Bilir-Meier auch die Tatorte des Attentats ab: Unter ihnen die McDonald‘s Filiale, in die der 18-jährige Attentäter David (Ali) S. Jugendliche mit einer Einladung auf seinem gefakten Facebookprofil gelockt hatte. Dort hatte er auf eine sechsköpfige Gruppe von Kindern und Jugendlichen geschossen und fünf Menschen getötet sowie ein 13-jähriges Kind lebensgefährlich verletzt. Auch vor der Filiale in der Hanauer Straße traf der Täter zwei Menschen tödlich und verletzte drei weitere schwer. Etwas weiter südlich in dieser Straße erschoss er einen weiteren Menschen, bevor er sich in das Erdgeschoss des OEZ begab, dort eine weitere Person tötete und sich nach stundenlanger Flucht schließlich selbst erschoss. Fast alle der neun ermordeten Menschen haben Migrationshintergrund, unter ihnen sind sieben Muslime, ein Rom und ein Sinto.

Die Videoarbeit von Cana Bilir-Meier beginnt mit einer Szene auf einer Treppe des U-Bahnaufgangs zum Olympia-Einkaufzentrum. Die jungen Darstellerinnen sehen in die Kamera und der Satz „This Makes Me Want to Predict the Past“ ertönt. In diesem Moment blicken die Mädchen nach oben zu einer Litfaßsäule. Einzig ein Plakat mit dem Wort „War“ (Krieg) ist darauf zu lesen.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Zeitschiene noch völlig unklar, die Zuschauer*innen wissen nicht, ob das Attentat gleich beginnt oder schon vorüber ist. So baut sich ein interessanter Spannungsbogen auf, der kurz vor dem Abspann mit der Einblendung der Tatorte und des Denkmals für die Attentatsopfer endet. Die Darstellerinnen nehmen die Zuschauer*innen mit auf eine Shoppingtour und Spurensuche rund um die Tatorte des OEZ. Zu hören sind währenddessen einzelne Sätze, die zumeist mit „this makes me...“ beginnen. Es sind YouTube-Kommentare zu dem Song Redbone des Musikers Childish Gambino, die sich auf eine Verszeile des Songs beziehen und diese neu interpretieren. Sie sind vom Wunsch getragen, die Realität ins Gegenteil zu verkehren, wie beispielsweise: „This makes me let my food eat me“; „This makes me fall and hurt the ground“; „This makes me wanna call someone and say, I can‘t talk“.

Schweigen ist zu hören bei der Einblendung der Tatorte und des Denkmals für die Attentatsopfer mit dem Titel „Für Euch“ der Künstlerin Elke Härtel. Im letzten Teil des Films, der dem Leben nach dem Attentat gewidmet ist, ertönt eine Hoffnung gebende, von Nihan Devecioğlu und Gustavo Kusnir vertonte Musik. Das Leben mit dem Verlust ist für die Angehörigen von Sevda Dağ, Chousein/Hüseyin Dayıcık, Selçuk Kılıç, Giuliano Josef Kollmann, Can Leyla, Janos Roberto Rafael, Armela Segashi, Sabina Sulaj und Dijamant Zabërgja schmerzhaft. Erschwerend kommt hinzu, dass das rechtsextreme Tatmotiv von David (Ali) S. lange Zeit offiziell nicht als solches bestätigt wurde, sondern die Tat als Amoklauf, ausgelöst durch psychische Probleme als Folge von Mobbing, galt: Schon wenige Tage nach der Tat war aber bekannt, dass S. ein „Manifest“ verfasst hatte. In ihm erklärte er, er wolle „ausländische Untermenschen“, die er auch mit Ungeziefermetaphern beschrieb, „exekutieren“. Rasch drang an die Öffentlichkeit, dass S. stolz auf seine angeblich „arische“ Herkunft (seine Eltern stammen aus dem Iran) sowie auf sein Geburtsdatum 20. April sei, das er mit Adolf Hitler gemeinsam hatte. Jahrestage faszinierten ihn, sodass er für seine Tat den 5. Jahrestag des rechtsextremen Attentats von Utøya und Olso mit 77 Toten wählte.
Obwohl die rechtsextreme Gesinnung des Täters feststand, stuften das Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft die Tat in ihrem Abschlussbericht vom März 2017 zunächst als „Amoklauf“ ein. Auch im Untersuchungsbericht des Bayerischen Innenministeriums vom April 2017 wurde „Rache“ für Mobbing als Hauptmotiv angenommen. Vertreter*innen der Opfer-Angehörigen sowie Landtagsabgeordnete vor allem von SPD und Grünen forderten eine Neubewertung des Falls. Drei Gutachten unterschiedlicher Expert*innen, die von der Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München in Auftrag gegeben worden waren, kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass es sich um eine rechtsextreme Tat bzw. um Rechtsterrorismus handelt.(1) Das Bundesamt für Justiz stufte die Tat im März 2018 ebenfalls als rechtsextrem ein und benachrichtigte die Familien.

Mittlerweile war auch ein Großteil der Internetaktivitäten von S. aufgeklärt worden, wodurch sich Kontakte zu rechtsextremen Gruppierungen nachweisen ließen. Im Oktober 2019 schwenkte auch das Landeskriminalamt um und bewertet den Fall seitdem als rechte „politisch motivierte Gewaltkriminalität“.(2) Den Hinterbliebenen sowie den verletzten Überlebenden hilft diese Neubewertung: einerseits, um mit dem Verlust besser umgehen zu können und andererseits durch einen nun möglichen Anspruch auf Hilfeleistungen. Das den Opfern gewidmete Denkmal am OEZ hat nun eine neue Inschrift erhalten, die der Neubewertung Rechnung trägt: “In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats vom 22.7.2016". Ursprünglich lautete sie: „In Erinnerung an alle Opfer des Amoklaufs vom 22.7.2016“.(3)

Migration schützt nicht vor Rassismus – auch nicht vor Rassismus im eigenen Denken. Cana Bilir-Meier ist dies bewusst, wenn sie fordert:
„Mir ist wichtig, dass wir den Rassismus unserer eigenen Communities hinterfragen. [...] Der junge Mann, der den rassistischen Anschlag gemacht hat, hatte eine eigene Migrationserfahrung.“
Insofern ist Cana Bilir-Meiers Werk ein Appell an uns alle zur Selbstreflexion.(4)
Es ist eine Aufforderung sich mit den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen und denjenigen zuzuhören, die von Rassismuserfahrungen erzählen. Auf der Tonspur von „This Makes Me Want to Predict the Past“ ist auch der folgende Satz zu hören: „This makes me want to remember the future“ – er rührt an ein zentrales Motiv der Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow: Nachzudenken über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und über die gesellschaftliche Funktion von Erinnerung.

Von Angela Hermann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des NS-Dokumentationszentrums München